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Der Jakobsweg

Der Jakobsweg

Titel: Der Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Rohrbach
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Töne, die gar nicht aus Vogelkehlen zu stammen scheinen. Geduldig halte ich Ausschau nach den gutgetarnten Vögeln, die auch »Nachtschwalben« genannt werden. Durch ihr rindenfarbenes Gefieder sind sie kaum zu sehen. Ich suche die Äste der Kiefern ab, auf denen sie gern sitzen. Da hockt vor mir auf dem sandigen Boden zwischen Gräsern und gelben Blumen ein Tier mit großen Augen. Wegen seiner schwarzen Augen, groß wie ein Zehnpfennigstück, ist es mir aufgefallen, denn die Federn sind perfekt an die Farbe des Untergrundes angepaßt. Ein junger Ziegenmelker! Die Daunen sind fast vollständig durch fertige Federn ersetzt. Wahrscheinlich kann er schon fliegen, aber er liegt erstarrt da, wohl auf seine gute Tarnung vertrauend. Bevor er sich anders besinnen kann, greife ich mir den Jungvogel, um ihn von nah zu betrachten. Er ist größer als eine Drossel. Das Gefieder ist phantastisch gefärbt, jede einzelne Feder hat viele verschiedene Brauntöne. Es ist sehr weich, deshalb können Nachtschwalben nahezu geräuschlos fliegen. Die Füße sind klein, fast schon verkümmert. Am Schnabel sprießen lange Borsten. Wie bei Katzen dienen diese Tasthaare zur Orientierung in der Dunkelheit. Auch fliegende Insekten erspüren die Nachtschwalben mit ihren Borstenhaaren. In diesem Moment reißt der Vogel seinen Schnabel auf und ein riesiger, roter Rachen öffnet sich. Sein Schlund ist unglaublich groß. Die zwei Hälften des Schnabels klappt er auf wie einen Koffer, so weit, daß er sich selbst verschlingen könnte. Das Innere leuchtet karminrot. Der Vogel in meinen Händen hat sich plötzlich in ein Ungeheuer verwandelt, in einen vorsintflutlichen Drachen, der vielleicht sogar Feuer speien kann.
    Es ist klar, dieser Maulaufreißer will mir drohen. Ich erschrecke auch, und fast hätte ich ihn fallen gelassen. Er klappt seinen monströsen Schnabel wieder zu, und ich setze den Vogel vorsichtig zurück auf den Boden. Bewegungslos bleibt er hocken.
    Am Nachmittag komme ich an einem winzigen Bahnhof vorbei. Die Station heißt Villadangos del Páramo. Sie wirkt, als würde hier niemals ein Zug halten. Neben den Gleisen spielen Kinder mit alten Puppen und einem Puppenwagen ohne Räder. Später sehe ich Szenen wie aus einem Spitzweggemälde: Ein alter hagerer Mann, schwarz gekleidet, steht in der Wiese, über sich einen schwarzen Regenschirm. Neben ihm, in der Sonne, grast eine Kuh.
    Die Sonne versinkt. Der Himmel wird immer dunkler, nur im Westen leuchtet es noch lange orangerot.
    Es ist Nacht, als ich die Brücke von Hospital del Órbigo erreiche. Im Mondlicht schimmert die alte, steinerne Brücke sehr geheimnisvoll. Mit zwanzig Bögen überspannt sie das Flußtal des Rio Órbigo. Ich lehne mich über die schwungvoll ausgebuchtete Steinbrüstung und schaue hinab zum Fluß. Zwei Angler stehen am Ufer. Schwarz heben sich ihre Silhouetten gegen das dunkel glänzende Wasser ab. Mir erscheinen sie in dieser seltsamen Mondscheinstimmung, wie mystische Figuren, zu ewiglichem Auswerfen der Angel und ewigem Warten verurteilt.
    Ein Ritter namens Suero de Quinones ließ sich angesichts dieser Brücke etwas ganz Besonderes einfallen. Im Jahr 1434 gab es keine Scharmützel mit den Mauren mehr zu bestehen, und Suero langweilte sich. Wie sollte ein Ritter noch die Gunst der Dame seines Herzens gewinnen, wenn er keine Heldentaten vollbringen konnte? Er ließ sich ein Kettencollier um den Hals legen, als Zeichen, von einer edlen Dame gefesselt zu sein, und gelobte, ihr zu Ehren 300 Turnierkämpfe auszufechten. Damit es an Gegnern nicht mangelte, blockierte er mit neun Getreuen die Brücke über den Rio Órbigo. Viele Ritter aus Frankreich, Italien, Deutschland und Spanien befanden sich auf dem Weg nach Compostela. An der Brücke über den Rio Órbigo forderte Suero de Quinones die Ritter zu einem Turnier. Dreißig Tage focht er gegen jeden vorüberkommenden und kampfeswilligen Recken und brach 300 gegnerische Lanzen. Viele Menschen wurden verletzt und sogar ein Ritter getötet. Suero aber hatte sein Gelübde erfüllt, die Halsfessel konnte ihm abgenommen werden, in Compostela soll sie immer noch aufbewahrt sein. Doch ob die Schöne vom ritterlichen Heldenmut ihres Anbeters beeindruckt war und ihn erhörte, ist nicht überliefert. Vierundzwanzig Jahre später rächte sich einer der damaligen Verlierer und tötete Suero de Quinones.
    In einer Gaststätte frage ich nach dem Weg zum refugio. Der Wirt sagt, er selber habe den Schlüssel und wolle mich

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