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Der Jakobsweg

Der Jakobsweg

Titel: Der Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Rohrbach
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Fahrrad zu verschenken und mit uns zu laufen.«
    »Ja, er hat das gesagt. Aber in Wirklichkeit habe ich nur wegen dir nicht aufgegeben.«
     

19 Von León bis Astorga
     
    Ich stehe zeitig auf und schreibe einen Zettel, den ich Atze unter der Tür durchschiebe. »Wir treffen uns in Santiago.« Mir ist klar, er wird enttäuscht sein, weil ich vorausgegangen bin, ohne mich zu verabschieden, ohne es ihm vorher zu sagen. Ich weiß, er wünschte sich, den Rest der Strecke zusammen mit mir zu gehen.
    Um sechs Uhr früh verlasse ich das refugio. Meine Laune ist schlecht. Ohne es geplant zu haben, bin ich in Richtung der Kathedrale gegangen. Ich drücke die schwere Tür, ja, sie ist offen! Als ich in der hohen Halle stehe, spüre ich, das ist jetzt für meine triste Stimmung der richtige Ort. Es ist düster. Die Sonne steht noch nicht hoch genug, um in die Fenster zu scheinen. Ganz leise, ganz langsam, wandle ich durch den Raum, der allein mir gehört. Ich habe ein seltsam irreales Gefühl, als wäre ich gar nicht vorhanden, als sei ich vor langer Zeit schon gestorben und würde nur noch zum Schein auf der Erde herumgeistern.
    Ein Lichtstrahl der höher gestiegenen Sonne trifft im Osten das erste Fenster. Es glüht auf. Kaleidoskopische Farbspiele fließen in die Kirche. Blaue, rote, gelbe, weiße Farbflecken weben ein buntes Muster über die Säulen, Pfeiler und Wände. Das farbige Licht verbindet sich inniglich mit dem dunklen Stein.
    Da bin ich nun so weit gelaufen, mit Umwegen nach Suso, Silos, Eunate und Escalada werden es wohl jetzt 600 Kilometer sein, aber mir ist, als wäre ich keinen Schritt weiter gekommen. Ich bin immer noch diejenige, die ich war, als ich in München meinen Rucksack packte.
    Ich gehe zum Ausgang. Die Tür schließe ich hinter mir, da liegt vor meinen Füßen ein junger Mauersegler. Er hat sich zu früh aus dem Nest gewagt, seine Schwungfedern sind noch nicht voll ausgebildet. Sie reichten aber zum Segelflug, so daß er unverletzt auf dem Boden landete, doch kann er sich nicht wieder in die Luft erheben. Vorsichtig nehme ich ihn in beide Hände. Ich spüre die Wärme des Vogelkörpers und das Pochen seines Herzens durch die dunklen Federn hindurch. Zärtliches Gefühl für dieses Vogelkind durchströmt mich. Ich wünschte, ich könnte es mitnehmen, ein Wesen, das mir gehört, das ich füttern und versorgen könnte. Ich erinnere mich an das Erlebnis mit der kleinen Rötelmaus zu Beginn meines Pilgerweges. Damals war ich voller Hoffnung, und die Maus erschien mir als Glücksbringer. Der junge Mauersegler dagegen stimmt mich traurig. Seine Hilflosigkeit macht mir meine eigene Ohnmacht bewußt, meine Einsamkeit, meine Sehnsucht nach Liebe.
    Ich setze den jungen Vogel in den Park gegenüber der Kathedrale. Vielleicht finden ihn seine Eltern und füttern ihn, bis er selbst fliegen kann. Würde ich ihn mitnehmen, hätte er überhaupt keine Chance zu überleben.
    Traurig verlasse ich León, diese schöne Stadt, in der ich mich gestern noch so wohl gefühlt habe. Mir ist, als sei ich selbst ein aus dem Nest gefallener Vogel, verloren in der Welt, einsam und gefährdet. Wozu? Das Leid und die Qual, diese Vergeudung von Leben, geboren werden um zu sterben. Ich kann nicht verstehen, warum die Menschen so am Leben hängen, ich wollte nie leben. Dennoch hatte ich zwölf Jahre gebraucht, bis ich wirklich begriff, was das ist, der Tod. Damals beschloß ich, sofort zu sterben. Mir schien das nur logisch. Da es keine Möglichkeit gab, dem Tod zu entgehen, warum dann nicht gleich Schluß machen? Wozu sich abmühen, sich anstrengen, sich plagen und schinden, wenn dann alles umsonst war, wenn nichts bleibt, wenn alles vergeht und erlischt? Ich würde nicht so dumm sein, dieses Spiel mitzuspielen. Ich würde mir das alles ersparen, dachte ich damals. Vor allem haßte ich es, in die Schule gehen zu müssen, die täglichen Hausaufgaben, das ging mir schon lange auf die Nerven, das alles würde ich mit einem Schlag los sein. Ich wurde heiter und war froh, der Last des Lebens ein für allemal ledig zu werden. Wie sollte ich es aber machen? Es geht ja leider nicht so einfach, daß man sagt: »Ich will nicht mehr! Schluß!« Und dann löst man sich auf. Da mußte ich mir schon etwas einfallen lassen. Mein Vater war Jäger, zwar hatte er einen vorschriftsmäßig verschlossenen Waffenschrank, aber ein aufmerksames Kind weiß, wie es sich den Schlüssel verschafft. Als wir wieder einmal in der Jagdhütte waren und Vater in der

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