Der Jakobsweg
hinbringen, da der Weg schwierig zu beschreiben sei. Ich solle mich nur eine Weile gedulden. So bestelle ich eine Fischsuppe, mit Tintenfischen, Muscheln, Garnelen und Fischen. Noch nie habe ich eine besser schmeckende Suppe gegessen.
Es ist lange nach Mitternacht, als der Wirt endlich Zeit findet. Das Refugium ist ein Häuschen, in einem Pappelwald gelegen, mit mehreren gut eingerichteten Zimmern: Doppelstockbetten, Schränken und Spiegeln, einer Küche mit Herd und Waschmaschine und einem Kaminzimmer. Ich bin die einzige im Haus und gehe bald ins Bett.
Der melodische Gesang eines Pirols weckt mich am Morgen. Das Häuschen und der Pappelwald sind schön, hier könnte man ein paar Tage bleiben, doch es drängt mich, weiter zu wandern. In der Nacht muß es geregnet haben. Jetzt spiegelt sich die Sonne in den Pfützen, und der Lehm pappt an den Schuhsohlen. Da der Pilgerweg noch immer entlang der Straße verläuft, wähle ich Feldwege durch die mit Kanälen durchzogene, gartenähnliche Landschaft. Hier scheint alles zu wachsen, auch Kraut und Rüben.
In einem Malvenbusch glitzern die Regentropfen wie Kristalle. Gelbe Schwertlilien wiegen sich an den Gräben und Frösche quaken im Wasser. Elstern, schwarzweiß befrackt, stolzieren diebisch durchs Gras, und ein Kolkrabenpaar krächzt im Flug mit dumpfen, tiefen Kehllauten.
In Santibáñez de Valdeiglesias kommt mir eine Frau auf der Dorfstraße entgegen. Als würde sie mich kennen, umarmt sie mich zur Begrüßung. Sie tut es, weil ich nach Santiago gehe. Ich würde den Weg für sie mitmachen, behauptet sie. Weil es Glück bringt, einen Pilger zu berühren, umarmt sie mich zum Abschied nochmals.
Auf dem Kirchturm nisten Störche. Drei Jungstörche mit kurzen, schwarzen Schnäbeln und grauem Daunenkleid lugen über den Nestrand. Über ihnen steht mit röten Langbeinen ein erwachsener Storch.
Hinter dem Dorf führt der Feldweg einen Hügel hinauf. Wein wächst am rotbraunen Berghang. Auf der Bergkuppe wuchert Heide und Macchiagebüsch und prachtvolle Maronenbäume bieten Schatten. Ein Schwarm Dohlen kreist über mir. Ich freue mich über ihre hellen Rufe. »Kjack, kjack, kjack...«, schallt es zu mir herunter und ich bilde mir ein, sie würden mich grüßen. Kräftig kontrastieren die blauen Bergzüge des Kantabrischen Gebirges weit im Norden zu der rotbraunen Erde hier. Steinschmätzer zwitschern und flaggen weiß mit ihren Schwanzfedern. Kein Mensch begegnet mir unterwegs.
Ich gelange an die Abbruchkante der Hochfläche. Vor mir im Tal liegt Astorga, eine rotweiße Anhäufung von Häusern. Es ist ruhig, nur ab und zu bellt ein Hund.
Astorga - das römische Austurica Augusta - entstand an einer Kreuzung römischer Straßen und war zum Schutz vor germanischen Überfällen ringsum befestigt. Ein Teil dieser Mauer, mehrfach erneuert, umgrenzt noch heute die Stadt. Früher gab es viele Hospitäler, zweiundzwanzig sollen es zur Blütezeit des Pilgerweges gewesen sein. Astorga diente als Erholungsort vor dem Aufstieg ins Gebirge, in die Montes de León, einem steilen Bergriegel, der vom Kantabrischen Gebirge ausgeht. Nur noch 240 Kilometer sind es von Astorga bis Santiago. Die Pilger waren erschöpft, manche fast am Ende ihrer Kräfte. Viele waren bereits als Kranke von zu Hause losgezogen, weil sie sich von Sant'Jago Heilung ihrer Leiden erhofften. Die Pilger hielten sich tage-, oft wochenlang in Astorga auf, bevor sie die Besteigung des Gebirges wagten. Die in die Stadt strömenden Menschen wurden beherbergt und verköstigt, die Kranken gepflegt und die Toten begraben. Ich verlasse meinen Ausblick neben dem Kreuz aus Granit und steige ab in die Stadt. Am Wegrand sitzt eine alte Frau und strickt. Sie bittet mich, für sie bei meiner Ankunft in Compostela zu beten. Ich verspreche es ihr, obwohl ich nie in meinem Leben beten gelernt habe. Ich werde ihren Wunsch auf meine Art erfüllen.
Sie erzählt mir: Ihr Mann sei verunglückt, als ihre acht Kinder noch klein waren. Schwer war es, sie allein durchzubringen, fünf seien gestorben. Ihr Jüngster, ihr Lieblingssohn, ist mit achtzehn Jahren nach Deutschland gegangen. Seit fünfzehn Jahren lebt er in Dortmund, ist mit einer Deutschen verheiratet und hat vier Kinder.
»Sie sind noch nie nach Spanien gekommen«, klagt die alte Frau. »Ich kenne meine vier Enkel nur von Fotos. Mein Sohn ist ein guter Junge, er liebt seine alte Mutter, einmal im Monat schreibt er mir.« Ich gehe weiter und stehe bald vor der Stadtmauer.
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