Der Jakobsweg
Wuchtig, mit halbrund vorspringenden Türmen, bestimmen die Reste der Wehrmauer den Blick auf Astorga.
Mir fällt ein mit Türmchen und Zinnen geschmücktes Schloß aus weißem Granit auf. Es ist der Palacio de Episcopal, der Bischofspalast, den Antoni Gaudí gebaut hat. Ich erinnere mich an das Gespräch mit Atze im Park von León. Er hatte recht, dieses Bauwerk zeigt noch nicht die der Natur nachempfundenen Elemente. Trotz seiner verspielten Strukturen wirkt es etwas steif und gekünstelt.
20 Von Astorga bis Ponferrada
»Eine schlechte Regierung haben wir«, sagt Marina. »Wir hier in den Bergdörfern sind denen in Madrid ganz und gar egal.« Marina ist eine Bäuerin, über achtzig Jahre ist sie alt. Sie ist die letzte Bewohnerin von Foncebadón.
»Ich versuche einiges instandzuhalten«, die alte Frau breitet hilflos ihre mageren Arme aus, »aber sehen Sie selbst, alles zerfällt. Ich bin zu alt, meine Kraft reicht nicht mehr. Ich habe nur ein paar Ziegen und meinen Hund.« Der struppige Köter bewegt mürrisch die Ohren, als über ihn gesprochen wird. »Die Jungen sind in die Städte gegangen, die Alten sind gestorben, ich bin die letzte«, sagt sie resigniert. Sicher, es sei sehr einsam, doch sie habe sich daran gewöhnt, denn sie sei zu alt, wegzugehen.
Die Dörfer gehen unter. Wer kann, entflieht der Armut. Ich war durch das verlassene Dorf gegangen, hatte die zerbröckelnden Häuser gesehen, selbst das Dach der Kirche war eingestürzt. Stille, nur das Rauschen des Windes. Ich wähnte mich allein in dem sterbenden Dorf. Da plötzlich die Stimme: »Adónde vas, wohin gehst du?« Es war Marina, mit einem Kopftuch um den grauen Schopf, einer abgetragenen Kittelschürze und Gummigaloschen an den nackten Füßen. Wachsam blickten mich ihre Augen aus dem faltenreichen Gesicht an. Ein Gesicht, in dem das Leben eingeprägt ist, vom Alter geschrumpelt wie ein Winterapfel. Sie freut sich über die unverhoffte Begegnung und behandelt mich wie einen langersehnten Gast. Sie zeigt mir das Dorf, ihre Ziegen und die kleinen Felder, die sie bepflanzt. Ich bin beeindruckt von der Energie, der Lebenskraft dieser alten Frau - der Letzten von Foncebadón.
Ich gehe weiter. Wie flüchtig doch die Beziehungen zu den Menschen sind, wenn man unterwegs ist, denke ich. Gestern war ich noch in Astorga gewesen, heute früh im blauen Morgendunst sah ich beim Zurückblicken die türmereiche Stadt schon wieder hinter mir liegen. Auf einer Reise tritt die Vergänglichkeit unseres Lebens am schärfsten hervor. Ich gehe und gehe, und gehe an allem vorbei. Nur für einen Augenblick werde ich gestreift, berührt, getroffen, dann bin ich schon wieder weitergegangen, fort.
Aber auch wer ständig am gleichen Ort lebt, entgeht nicht der Vergänglichkeit des Daseins. Nur scheinbar sind die Beziehungen fest und unveränderbar. Aber viele glauben dennoch, sie könnten ihr Leben planen, es zu einem Punkt hinführen und es an einer günstigen Stelle festhalten. Notwendige Entschlüsse, anstehende Entscheidungen werden deshalb oft hinausgeschoben, verdrängt, bis sie wie eine Lawine über uns kommen und dann unsere Existenz gewaltsam verändern. Ich denke, daß es ein Irrtum ist, dauerhafte Sicherheit und Geborgenheit anzustreben. Denn es gibt keine Dauer, das Leben besteht aus einer Kette einzelner, flüchtiger Momente. Nur wollen wir das meist nicht wahrhaben. Erst wenn man sich trennt, wenn man aufbricht und sich auf den Weg macht, verschwinden die Ängste, dann tritt man ein, wird aufgenommen und geborgen im Fluß der Veränderung, wird ein Teil der Bewegung in Raum und Zeit. Tatsächlich ist die Pilgerreise ein Sinnbild für das Leben.
Am Fuße des Monte de León liegt Castrillo de Polvazares, etwa drei Kilometer abseits des Weges. Ich muß den Umweg machen, denn es ist sicherlich die letzte Ortschaft, in der ich Lebensmittel kaufen kann. Die Bewohner der Dörfer in der Maragatería, so heißt das Berggebiet, sollen sehr ärmlich ihr Leben fristen.
Castrillo de Polvazares ist ein malerischer Ort, fast zu schön, um wirklich existent zu sein. Er wirkt auf mich wie eine Rekonstruktion für ein Dorfmuseum: Die Dorfstraße ist kunstvoll mit verschieden getönten Steinen ausgelegt, die Häuser sind alle im gleichen Stil aus braunen Feldsteinen aufgeschichtet. Die Kirche mit einem Storchennest. Fünf Jungstörche lassen ihre schwarzen Schnäbel über den Nestrand hängen. Alles ist sauber, ordentlich, leergeputzt und scheint auf den
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