Der Jakobsweg
Nähe Kanzeln zur Ansitzjagd baute, nahm ich Gewehr und Munition heraus.
Ein Gefühl ungeheurer Freiheit überkam mich. Froh machte ich mich auf den Weg, mir einen schönen Ort zum Sterben auszusuchen. Ich ging zu meinem Lieblingsplatz bei den Weiden unten am Teich. Ich lud das Gewehr, das war für mich als Tochter eines Jägers kein Problem. Dann streckte ich mich zur Probe auf dem Gras aus und schaute nach, ob auch keine Steine oder Wurzeln da waren, auf die ich fallen könnte. Am liebsten wäre ich so liegengeblieben. Ein warmer Tag, blauer Himmel, die Rohrammern sangen im Schilf und die Teichhühner tickten. Es wäre schön, dachte ich mir, wenn ich zwar nicht mehr leben müßte, aber doch weiter auf der Erde sein könnte, als Geist. Schnell, ohne hinzusehen, entfernte ich die Patronen aus dem Gewehr. Dann nahm ich den Lauf in den Mund. Jetzt mußt du abdrücken, sagte ich mir. Geladen hast du und obwohl du die Patronen herausgenommen hast, könnten sie ja noch drin sein, jedenfalls mußt du jetzt so tun, als ob du dich erschießen würdest. Ich betätigte den Abzug und im gleichen Moment stellte ich mir vor, wie der Schuß krachen würde, wie mein Kopf, mein Gehirn, wie meine Knochen zerplatzen, zerspringen, zerreißen, wie das alles auseinanderspritzen würde. Die Wucht der Vorstellung warf mich zu Boden. Eine Weile lag ich wie betäubt. Dann war mein erster Gedanke: »Nun kann mir nichts mehr passieren! Da ich so gut wie gestorben bin, kann mir niemand mehr weh tun. Ich bin unverwundbar geworden!«
Doch das war ein Irrtum. Nur eine kurze Zeit wirkte es tatsächlich.
Jetzt aber hilft mir die Erinnerung an meine Kindheitseskapaden, die traurige Stimmung zu überwinden. Ich habe mich tatsächlich nie geändert, immer ist ein bißchen Theater dabei. Nie weiß ich genau, ob das, was ich mir einbilde, nicht doch Wirklichkeit sein könnte.
Das Wandern stimmt mich froh. Ich bin wieder einverstanden mit mir und dem Leben. Die Karte zeigt, daß der Pilgerweg bis Hospital de Órbigo mit der Fahrstraße identisch ist. Ich habe eine glorreiche Idee, wie ich den Unbilden der Straße entkommen kann. In gleicher Richtung verläuft eine Eisenbahnlinie, da könnte ich die Schienen entlang wandern und hätte meine Ruhe.
Vorher komme ich durch La Virgen del Camino und besichtige die 1961 errichtete Kirche, eine fabrikartige Halle aus Beton und Buntglas. Außen an der Fassade ragen dreizehn sehr eigenartige, sechs Meter hohe Bronzeskulpturen empor. Der Bildhauer José Maria Subirachs hat sie geschaffen. Sie sollen die zwölf Apostel und in der Mitte Maria darstellen. Auf den ersten Blick sieht es wie von Rost und Säure zerfressenes Metall aus. Langsam erkenne ich Hände mit spindeldürren Fingern. Köpfe wie mit Grind und Schorf bedeckt und durchlöcherte Körper. Den Apostel Jakobus kann ich identifizieren. Schnecken und Tang kleben an seinem Körper, und er ist wie mit langen Algenfäden behängen. Einen Arm streckt er westwärts aus und hält eine Muschel in der Handfläche.
Übertrieben skurril erscheinen mir zuerst diese Skulpturen, aber allmählich werden sie mir vertrauter, und ich finde den Einfall originell, die heiligen Männer und die gebenedeite Maria so darzustellen.
Erleichtert verlasse ich die Straße und gehe weglos durch hohe Wiesen zur Bahnlinie. Nach einem Wäldchen und dem Überspringen eines Baches habe ich es geschafft. Neben den Gleisen verläuft ein schmaler Pfad. Der Bahndamm blüht. Welch ein Unterschied zur Straße! Der Schienenstrang ist Teil der Landschaft, gesäumt von Kiefernwäldern, Hecken und Wiesen, hüfthoch die Gräser und Blumen, insektenumschwirrt. Kein Autolärm und keine Auspuffgase.
Manchmal, wenn der Pfad verwachsen ist, gehe ich direkt auf den Gleisen, balanciere über die rostbraunen Schienen oder mache große Schritte von Holzbohle zu Holzbohle. Dabei fühle ich mich wie in einem Wildwestfilm, als Desperado entlang einer einsamen Bahnlinie.
Lange bevor ich den Zug höre und sehe, vibrieren die Schienen. Pfeifend und Dampfwolken ausstoßend, stampft er heran. Aus dem Lokfenster beugt sich weit ein Eisenbahner, winkt und schwenkt begeistert seine Kappe. Dann wieder Stille.
Ein Kuckuck ruft und die Ziegenmelker schnurren. Ziegenmelker sind eigenartige Vögel. Nachts jagen sie im Fluge Insekten. Hirten verdächtigten die langflügeligen und langschwänzigen Vögel, heimlich die Euter der Ziegen leerzutrinken. Ihr monotones, anhaltendes Schnurren klingt eigenartig, seltsame
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