Der Janson-Befehl
Jessie.
»Ich bekomme keinen Besuch.«
»Überhaupt keinen? Das kann ich kaum glauben.«
»Sehr wenige. Sehr, sehr wenige.«
Jessie nickte. »Und wie gehen Sie mit den besonders lästigen um?«
»Vor ein paar Jahren war ein junger Journalist aus England hier«, sagte die alte Frau und blickte dabei in die Ferne. »Er hatte so viele Fragen. Er hat etwas über Ungarn im Krieg und die Zeit danach geschrieben.«
»Tatsächlich?«, fragte Janson und musterte sie eindringlich. »Ich würde gern lesen, was er geschrieben hat.«
Die alte Frau schnaubte. »Er hat nie etwas geschrieben. Zwei Tage nach seinem Besuch ist er bei einem Unfall in Budapest umgekommen. Dort gibt es schrecklich viel Unfälle, das sagen alle.«
Die Temperatur in dem Raum schien bei ihren Worten spürbar abzusinken.
»Aber ich habe mich immer gefragt.«, sagte die alte Frau.
»Hat er sich auch nach diesem Grafen erkundigt?«, wollte Jessie wissen.
»Nehmen Sie sich noch eine Kastanie«, forderte die alte Frau sie auf.
»Darf ich wirklich? Es macht Ihnen auch nichts aus?«
Die alte Frau lächelte, wirkte jetzt gut gelaunt. Nach einer Weile sagte sie: »Er war unser Graf. Man konnte nicht in Molnar leben und den Grafen nicht kennen. Das Land, das man bestellt hat, gehörte ihm oder hat ihm früher einmal gehört. Eine der ganz alten Familien - er konnte seine Vorfahren auf einen der sieben Stämme zurückverfolgen, aus denen im Jahre 1000 die ungarische Nation entstanden ist. Der Besitz, die Ländereien seiner Ahnen, lagen hier, wenn er auch viel Zeit in der Hauptstadt verbracht hat.«
Ihre kleinen dunklen Augen blickten zur Decke. »Die Leute sagen, ich sei eine alte Frau die in der Vergangenheit lebt. Vielleicht stimmt das auch. Man hat das Land, in dem wir leben, so gequält. Ferenczi-Novak hat das besser verstanden als die meisten.«
»Tatsächlich?«, fragte Jessie.
Sie musterte sie einen Augenblick lang stumm. »Vielleicht möchten Sie mit mir ein Gläschen pälinka trinken.«
»Danke, nein, Ma'am.«
Gitta Bekesi starrte ausdruckslos vor sich hin und sagte nichts, offenbar beleidigt.
Jessie sah Janson an und dann wieder die alte Frau. »Nun, wenn Sie eines nehmen.«
Die alte Frau erhob sich langsam und ging schwerfällig zu einer Anrichte mit Glastüren. Sie holte einen riesigen Krug mit einer farblosen Flüssigkeit heraus und goss davon ein wenig in zwei kleine Gläser.
Jessie nahm eines. Die alte Frau lehnte sich in ihren Sessel zurück und sah zu, wie Jessie an ihrem Glas nippte.
Kaum dass sie geschluckt hatte, schoss die Flüssigkeit wie in einer Explosion wieder aus ihrem Mund. Das geschah so unbewusst wie ein Niesen. »Oh, das tut mir Leid!«, stieß sie mit halb erstickter Stimme hervor.
Die alte Frau lächelte.
Jessie rang nach Atem. »Was.«, keuchte sie mit Tränen in den Augen.
»Wir brennen ihn in dieser Gegend selbst«, sagte die Frau. »Fünfundneunzig Prozent. Ein wenig kräftig für Sie?«
»Ein ganz klein wenig«, sagte Jessie heiser.
Die alte Frau leerte ihr Glas und wirkte jetzt gelockerter als vorher. »Das geht alles auf den Vertrag von Trianon von 1920 und die verlorenen Gebiete zurück. Wir mussten fast drei Viertel unseres Landes an die Rumänen und die Jugoslawen abtreten. Können Sie sich vorstellen, wie wir uns dabei gefühlt haben?«
»Wie bei einer Amputation«, meinte Janson.
»Richtig - man hatte das unheimliche Gefühl, als wäre ein Teil von einem noch da und doch nicht da. Nem, nem soha! Das war damals unser nationales Motto, und es bedeutet: >Nein, nein, niemals! < Das ist die Antwort auf die Frage: >Darf es so bleiben?< Jeder Bahnhofsvorstand hat den Satz mit Blumen in seinen Garten geschrieben. Gerechtigkeit für Ungarn! Aber niemand in der Welt hat das ernst genommen, diese Sehnsucht nach den verlorenen Gebieten. Niemand, außer Hitler. Solcher Wahnsinn - als würde man auf einem Tiger reiten. In Budapest freundet sich die Regierung mit diesem Mann an. Und kurz darauf hat die Bestie sie geschluckt. Das waren Fehler, für die dieses Land schrecklich leiden musste. Aber niemand hat mehr gelitten als wir.«
»Und Sie waren hier, als.?«
»Alle Häuser haben sie in Brand gesteckt. Die Leute, die dort wohnten - deren Vorfahren hier gearbeitet hatten, so lange irgendjemand zurückdenken konnte -, aus ihren Betten gescheucht, von ihren Feldern, vom Frühstückstisch. Zusammengetrieben und mit vorgehaltener Waffe gezwungen, über die Eisdecke der Theiß zu gehen, bis das Eis schließlich
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