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Der Janusmann

Der Janusmann

Titel: Der Janusmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Child
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Augenblick kam ein grauer Taurus, der bis auf die Farbe mit Duffys Dienstwagen identisch war, die Zufahrt entlanggerast. Er wurde etwas langsamer, als der Fahrer den Rastplatz absuchte, beschleunigte dann wieder und hielt geradewegs auf uns zu. Am Steuer saß der ältere Typ, den ich in der Nähe des Collegetors im Rinnstein zurückgelassen hatte. Er hielt neben dem blauen Kastenwagen, öffnete die Tür und stemmte sich genau so heraus, wie er aus dem von der Polizei geliehenen Chevy Caprice ausgestiegen war. In der rechten Hand hatte er eine rotschwarze Tragetüte mit dem Aufdruck Radio Shack. Sie enthielt mehrere Schachteln, die sich unter dem dünnen Kunststoff abzeichneten. Er hielt sie hoch, lächelte und kam auf mich zu, um mir die Hand zu geben. Er trug ein frisches Hemd, aber denselben Anzug. Ich konnte die Flecken sehen, wo er versucht hatte, das Kunstblut auszuwaschen. Sehr erfolgreich war er nicht gewesen. Sein Anzug sah aus, als habe er sich mit Ketchup bekleckert.
    »Dürfen Sie schon Aufträge erledigen?«, fragte er.
    »Ich weiß nicht, was ich darf«, entgegnete ich. »Wir haben ein Problem mit einem Bleisiegel.«
    Er nickte. »Hab ich mir gedacht. Was sollte es bei dieser Einkaufsliste sonst sein?«
    »Haben Sie schon mal eins geöffnet?«
    »Ich bin ein Mann der alten Schule«, erklärte er. »In der guten alten Zeit haben wir jeden Tag zehn geöffnet. Überall gab’s Raststätten für Fernfahrer, und die Ladung war kontrolliert, bevor der Kerl auch nur seine Suppe bestellt hatte.«
    Er ging in die Hocke und leerte die Tragetüte auf dem Asphalt aus. Er hatte einen Lötkolben, eine Spule stumpfes Lötzinn und einen Trafo, damit er den Lötkolben vom Zigarrenanzünder seines Autos aus betreiben konnte. Dazu musste der Motor laufen, deshalb ließ er ihn an und stieß ein Stück weit zurück, damit das Kabel reichte.
    Das Siegel bestand im Prinzip aus einem gezogenen Bleidraht mit zwei großen angeschmolzenen Bleiklumpen an den Enden. Die Klumpen waren mit einer erwärmten Formzange zusammengedrückt worden, sodass reliefartig geprägte Siegel entstanden waren. Diese Siegel ließ der Alte unangetastet. Sein Vorgehen zeigte, dass er genau wusste, was zu tun war. Er steckte den Lötkolben ein, ließ ihn heiß werden und prüfte seine Temperatur, indem er auf ihn spuckte. Als er mit ihr zufrieden war, tupfte er mit der heißen Spitze auf seinen Jackenärmel und berührte dann damit den Draht an der dünnsten Stelle. Der erhitzte Bleidraht schmolz sofort. Der Alte zog die beiden Drahthälften aus den Ösen am Griff, ging zu seinem Wagen und legte sie aufs Instrumentenbrett. Ich packte den Verschlussgriff des Rolltors und drehte ihn nach links.
    »Okay«, sagte Duffy. »Was haben wir hier?«
    Wir hatten Teppiche. Das Tor ratterte nach oben, Tageslicht fiel in den Laderaum, und wir erkannten mindestens hundertfünfzig Teppiche – jeder ordentlich zusammengerollt, mit Bindfaden verschnürt und auf einem Ende stehend. Alle waren unterschiedlich groß, wobei sich die höheren Rollen vorn am Fahrerhaus und die kürzeren hinten am Rolltor befanden. Da sie alle mit der Oberseite nach innen gerollt waren, sahen wir nur die farblosen, groben Unterseiten. Die rauen Sisalschnüre, mit denen sie umwickelt waren, sahen alt und vergilbt aus. Aus dem Laderaum schlugen uns der starke Geruch von Rohwolle und der schwächere Duft von Pflanzenfarben entgegen.
    »Wir sollten sie kontrollieren«, schlug Duffy vor. Ihre Stimme klang ein wenig enttäuscht.
    »Wie viel Zeit haben wir?«, fragte der Alte.
    Ich sah auf meine Uhr.
    »Vierzig Minuten«, entgegnete ich.
    »Dann müssen Stichproben reichen«, meinte er.
    Wir holten ein paar aus den hintersten Reihen. Sie waren straff gerollt. Keine Pappröhren im Inneren. Einer der Teppiche wies Fransen auf. Er roch alt und muffig. Die Bindfadenknoten waren alt und zusammengequetscht. Wir bohrten mit den Fingernägeln darin herum, konnten sie aber nicht öffnen.
    »Ich denke, sie schneiden die Bindfäden durch«, sagte Duffy. »Aber das dürfen wir nicht.«
    »Richtig«, sagte der Alte. »Das dürfen wir nicht.«
    Der raue Bindfaden sah fremd aus. Ich hatte schon lange keinen so primitiven Strick mehr gesehen. Er schien aus irgendeiner Naturfaser zu bestehen. Vielleicht Jute oder Hanf.
    »Was machen wir jetzt?«, fragte der Alte.
    Ich zog eine weitere gerollte Brücke heraus. Wog sie prüfend in den Händen. Sie hatte das richtige Gewicht für einen Teppich. Ich drückte sie zusammen.

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