Der Janusmann
ich.
Elizabeth Beck saß auf den Felsen. Sie trug einen Morgenrock über ihrem Nachthemd, hatte beide Ellbogen auf die Knie gestützt und starrte wie aus Stein gemeißelt ins Wasser.
Ich verharrte bewegungslos. Ich war zehn bis zwölf Meter von ihr entfernt und schwarz gekleidet. Doch wenn sie nach links sah, würde ich mich vor dem Himmel abheben. Und eine jähe Bewegung konnte mich verraten. Also stand ich einfach nur da. Die Brandung rollte an den Strand und lief wieder aus. Das war ein beruhigendes Geräusch. Eine hypnotische Bewegung. Sie musste völlig ausgekühlt sein. Ich sah, wie die leichte Brise ihr Haar bewegte.
Ich beugte die Knie, spreizte die Finger und ging lautlos in die Hocke. Sie bewegte sich. Drehte den Kopf zur Seite, als sei ihr plötzlich etwas eingefallen. Sie sah mich direkt an. Ließ sich keinerlei Überraschung anmerken. Starrte mich mehrere Minuten lang an. Ihre langen Finger waren ineinander verschlungen. Ihr blasses Gesicht wurde vom Widerschein des Mondlichts auf dem Wasser erhellt. Ihre Augen waren geöffnet, aber sie sah offenbar nichts. Oder ich war schon so zusammengeduckt, dass sie mich für einen Felsen oder Schatten hielt.
So verharrte sie ungefähr zehn Minuten. Sie begann vor Kälte zu zittern. Dann drehte sie den Kopf entschlossen zur anderen Seite und sah wieder aufs Meer hinaus. Sie hob beide Hände und strich sich die Haare aus der Stirn. Wandte ihr Gesicht dem Himmel zu und stand auf. Sie war barfuß. Ein Schauder durchlief sie. Sie streckte die Arme wie eine Seiltänzerin aus und ging in meine Richtung. Der felsige Boden tat ihren Füßen weh. Das war offensichtlich. Sie bewahrte ihr Gleichgewicht mit beiden Armen und kam bis auf einen Meter an mich heran. Ging unbeirrbar zum Haus weiter. Ich sah ihr nach. Sie verschwand hinter der Mauer des Garagenblocks. Eine Weile später hörte ich, wie die Haustür aufging und sich wieder schloss. Ich sank zu Boden und legte mich auf den Rücken. Starrte zu den Sternen hinauf.
Ich blieb so lange liegen, wie ich es wagen konnte, rappelte mich dann auf und kletterte die fünfzehn Meter zum Strand hinunter. Streifte meine Kleidung ab und verpackte sie ordentlich in dem schwarzen Müllsack. Die Glock mitsamt den beiden Magazinen wickelte ich in mein Hemd. Die Socken stopfte ich in die Schuhe, packte sie obenauf und bedeckte den Stapel mit dem Geschirrtuch. Dann verknotete ich den Plastiksack, hielt ihn am Knoten fest, glitt ins Wasser und zog ihn hinter mir her.
Das Meer war kalt. Damit hatte ich gerechnet. Schließlich war erst April und dies die Küste von Maine. Aber es war nicht nur kalt, sondern eisig. Es tat erst weh, dann lähmte es einen fast. Es verschlug mir den Atem. Ich war binnen Sekunden ausgekühlt. Fünf Meter vom Strand entfernt klapperten mir die Zähne. Ich kam kaum voran, und das Salzwasser brannte in meinen Augen.
Nach ein paar kräftigen Schwimmstößen war ich zehn Meter weit draußen und konnte die Mauer sehen. Sie war strahlend hell beleuchtet. Ich konnte nicht durch sie hindurch und nicht über sie hinweg. Also musste ich sie umschwimmen. Das war die einzige Möglichkeit. Ich musste eine Viertelmeile schwimmen. Ich war stark, aber nicht schnell, und zog einen Müllsack hinter mir her, weshalb ich ungefähr zehn Minuten brauchen würde. Allerhöchstens eine Viertelstunde. Und niemand starb innerhalb einer Viertelstunde an Unterkühlung. Jedenfalls nicht ich. Nicht in dieser Nacht.
Ich kämpfte gegen die Kälte und die Dünung an und gelangte zu einer Art Seitenschwimmrhythmus. Ich schleppte den Müllsack zehn Beinschläge lang mit der linken Hand. Dann wechselte ich auf die andere Seite über und machte weitere zehn Beinschläge. Ich spürte eine leichte Strömung. Die Flut kam herein. Sie nützte mir, kühlte mich aber zugleich aus. Sie war arktisch kalt. Meine Haut war blass und gefühllos, mein Atem keuchend. Mein Herz jagte. Ich begann mir Sorgen wegen eines Kälteschocks zu machen. Mir fiel ein, was ich über die Titanic gelesen hatte. Alle Leute, die es nicht geschafft hatten, in eines der Rettungsboote zu gelangen, waren innerhalb einer Stunde gestorben.
Aber ich würde keine Stunde im Wasser bleiben. Hier gab es auch keine Eisberge. Und mein Rhythmus bewährte sich. Ich befand mich ungefähr auf Höhe der Mauer, doch der Lichtschein ihrer Beleuchtung reichte nicht bis zu mir hinaus. Ich passierte die Mauer. Die halbe Strecke lag hinter mir. Machte kräftige Beinschläge. Holte mit jeweils
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