Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Janusmann

Der Janusmann

Titel: Der Janusmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Child
Vom Netzwerk:
stehen. Außer seiner Reichweite.
    »Wir müssen reden«, sagte ich.
    Seine Augen waren blassblau und hatten stecknadelkopfgroße Pupillen. Vermutlich hatte sein Frühstück nur aus Kapseln und Pulvern bestanden.
    »Worüber reden?«, fragte er.
    »Neue Situation«, sagte ich.
    Er schwieg.
    »Was ist deine MOS?«, erkundigte ich mich.
    MOS ist ein Army-Akronym. Die U.S. Army hat eine Vorliebe für Akronyme. Dieses bedeutet Military Occupational Speciality, also Spezialausbildung. Und ich sprach im Präsens. Ich wollte ihn in die alten Zeiten zurückversetzen. Ein ehemaliger Soldat hat Ähnlichkeit mit einem ehemaligen Katholiken. Selbst wenn die alten Rituale scheinbar längst vergessen sind, ist ihr Sog noch immer stark. Auch das alte Ritual, dass man einem Offizier zu gehorchen hat.
    »Elf peng peng«, sagte er und grinste.
    Keine Antwort, die ich mir gewünscht hätte. Elf peng peng war Soldatenjargon für 11B, was 11-Bravo, Infanterie bedeutete, also Nahkampf. Sollte ich jemals wieder einem solchen Riesen gegenüberstehen, der mit Methedrin und Steroiden voll gepumpt war, würde ich mir wünschen, seine MOS sei Kfz-Instandsetzung oder Maschinenschreiben gewesen. Nicht ausgerechnet Nahkampf. Vor allem nicht, wenn es sich um einen hundertachtzig Kilogramm schweren Riesen handelte, der Offiziere nicht leiden konnte und acht Jahre in Fort Leavenworth gesessen hatte, weil er einen von ihnen tätlich angegriffen hatte.
    »Gehen wir rein«, schlug ich vor. »Hier draußen ist’s zu ungemütlich.«
    Das sagte ich in dem Tonfall, den man lernt, sobald man zu einem Dienstgrad über dem Hauptmann befördert wird. Es ist ein vernünftiger Tonfall, fast ein Gesprächston. Er klingt wie ein Vorschlag, ist aber auch ein Befehl und reich an Untertönen. Im Prinzip besagt er: Hey, wir sind hier doch unter uns. Kleinigkeiten wie Dienstgrade brauchen uns nicht zu kümmern, stimmt’s?
    Paulie starrte mich lange an. Dann wandte er sich ab und zwängte sich durch die Tür. Zog den Kopf ein, damit er durchkam. Die Decke drinnen war ungefähr zweieinviertel Meter hoch. Sein Scheitel berührte sie fast. Ich ließ meine Hände in den Manteltaschen. Das von seinem Regenmantel tropfende Wasser bildete Pfützen auf dem Fußboden.
    In dem Pförtnerhäuschen herrschte ein scharfer, strenger Raubtiergeruch. Wie von einem Nerz. Und es war verdreckt. Wir standen in dem kleinen Wohnzimmer, an das sich der Küchenbereich anschloss. Jenseits der Küche gab es einen kurzen Flur, an dem das Bad lag, und an seinem Ende ein Schlafzimmer. Das Ganze war kleiner als eine Stadtwohnung, aber wie ein allein stehendes Haus angelegt und eingerichtet. Überall herrschte Unordnung. Im Ausguss türmte sich schmutziges Geschirr. Gebrauchte Teller, Tassen und Kleidungsstücke waren im ganzen Wohnzimmer verteilt. Vor einem neuen Fernseher stand ein altes Sofa. Seine Polster waren durchgesessen. Auf Regalen und Tischen, überall standen Pillenfläschchen. Manche enthielten Vitaminpillen. Aber das waren nicht sehr viele.
    Zur Einrichtung des Wohnzimmers gehörte auch ein Maschinengewehr. Ein altes sowjetisches NSW, das von einem Panzerturm stammte. Paulie hatte es mitten im Raum an eine Kette gehängt. Dort baumelte es wie eine makabre Skulptur. Wie ein Mobile von Calder, das zur Ausstattung jedes neuen Flughafenterminals gehört. Er konnte dahinter stehen, das MG im Kreis schwenken und wie durch Schießscharten durchs vordere oder rückwärtige Fenster schießen. So war das Schussfeld begrenzt, aber er konnte die Straße vierzig Meter weit nach Osten und die Zufahrt vierzig Meter weit nach Westen mit MG-Feuer bestreichen. Die Zuführung der gegurteten Munition erfolgte aus einem unter dem MG stehenden offenen Metallkasten. An einer Wand stapelten sich ungefähr zwanzig weitere Munitionskästen. Die olivgrünen Metallboxen waren mit kyrillischer Schrift und roten Sowjetsternen bedeckt.
    Das NSW war so riesig, dass ich bis fast an die Wand zurückweichen musste, um daran vorbeizukommen. Ich sah zwei Telefone. Eines stellte vermutlich die Verbindung zur Außenwelt dar. Das andere war anscheinend ein Apparat für die Verbindung zum Haus. An den Wänden hingen die Signalkästen von Alarmanlagen. Einer war mit den Sensoren im Niemandsland verbunden, der andere gehörte zu dem Bewegungsmelder am Tor. Ein Videomonitor zeigte das milchig weiße Bild der Überwachungskamera auf einer der Torsäulen.
    »Du hast mich getreten«, sagte er.
    Ich schwieg.
    »Dann hast du versucht,

Weitere Kostenlose Bücher