Der Jesus vom Sexshop: Stories von unterwegs
als sei das Paradies daraus gebaut. Ich schloß die Augen, und die Musik trug mich weg. Oberstimmen-Musik. Der Blinde sang in dem Bereich, in den das Jodeln springt, aber er sprang nicht wieder zurück. Er blieb oben. Und er sang leise. Nur sein Herz war laut. Die Wirkung war verblüffend. Ich transzendierte irgendwohin, und dieses Irgendwo muß vor dreitausend Jahren gewesen sein, als die Götter auf Erden wandelten und sich Indien einer erleuchteten Kultur erfreute. Allen Berichten zufolge wurde damals das Yoga erfunden, auch die ayurvedische Heilkunst, die Astrologie und die poetische Philosophie mit Überlänge gehen auf diese Zeit zurück. Das Mahabharata, um nur einen Beweis für den heiligen Fleiß zu nennen, ist ein Werk, das über hunderttausend Doppelverse umfaßt. Von Schreibblockaden ist nichts bekannt. Auch nicht bei den Astrologen und schon gar nicht bei den Spezis der Palmblattfraktion.
Die Palmblattbibliothek ist das letzte große Mysterium Indiens. Angeblich haben medial begabte Astrologen seinerzeit die persönlichen Schicksale von einigen Millionen Menschen auf Palmenblättern niedergeschrieben, im Grunde muß man sagen: von einigen Millionen Seelen, denn die Aufzeichnungen umfassen ihre früheren, gegenwärtigen und künftigen Reinkarnationen. Das totale Schicksal, wenn man so will, festgehalten für alle, von denen die prophetischen Mönche wußten, daß sie früher oder später in die Bibliotheken kommen würden. Problem: Die Bibliothek, von der man weiß, steht in Chennai (ehemals Madras), aber man muß sich ein Jahr im voraus anmelden, will man sein Palmenblatt lesen, und von den Bibliotheken, in denen es schneller geht, weiß man nicht genau, wo sie sind, außer irgendwo in Indien. Ich hatte in der Tat den Astrologieprofessor einiges zu fragen. Die anderen Fragen:
Worin besteht der Unterschied zwischen der indischen und unserer Astrologie?
Ist die Astrologie wirklich allwissend?
Gibt es für uns Möglichkeiten (Meditation, Jesus, eigener Wille), den Gesetzen der Sterne zu entkommen?
Kann er mal einen Blick auf mein Schicksal werfen?
Aber wir könnten das auch erst einmal Dr. Vagish Shastri fragen, mit dem wir heute keinen Termin hatten, der aber in dem Ruf steht, immer zu Hause zu sein. «Warum gerade ihn?» wollte Ditu wissen. «Er ist kein Astrologe. Er ist Sanskrit-Gelehrter.» Na und? Erstens wurde die alte Sprache Indiens parallel zur Astrologie entwickelt, und es kann nicht schaden, über linguistische Aspekte von Voraussagen zu sprechen. Außerdem ist Dr. Vagish Shastri der Lehrer von MADONNA. Die Geschichte dazu geht so: Als Madonna mit «Shanti/Ashtangi» einen in Sanskrit gesungenen Welthit landete, bekam sie kurz darauf einen Brief aus Varanasi. Dr. Vagish Shastri erklärte darin, daß Varanasi nicht nur die heiligste der sieben heiligen Städte sei, es sei auch die heimliche Hauptstadt der indischen Kultur. Die besten Musiker (wie Ravi Shankar) und die besten Gelehrten (wie er) würden hier wohnen, schrieb der führende Sanskrit-Experte des Subkontinents, und nun gebe es ein Problem: Zwar sei sein Herz mit Dankbarkeit erfüllt, daß die Popsängerin die heilige Sprache Indiens überall in der Welt bekannt mache, aber leider spreche sie sie falsch aus. Ein paar Wochen später war Madonna bei ihm.
Der Doktor gehört nicht zum Lehrkörper der Banaras Hindu University, darum wohnt er nicht in den Professorenhäusern der City of Science, sondern in dem architekturgewordenen Wahnsinn der alten Stadt, und ich versuchte, den Weg zu ihm mit den Augen von Madonna zu sehen. Sobald man den weitläufigen, grünen Park der Wissenschaft verläßt, zeigt uns Indien, wo es langgeht, wenn keine Familie weniger als fünf Kinder hat, neunzig Prozent der Steuereinnahmen in die Abtragung von Auslandsschulden fließen und die restlichen zehn Prozent zu gleichen Teilen vom Militär und von der Korruption aufgebraucht werden. In der «Stadt des Lichts» (so die Sanskrit-Bedeutung von Varanasi) fällt in etwa so oft der Strom aus, wie es in London regnet, achtzig Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze, die Straßen sind so alt wie die Zivilisation (Varanasi zählt zu den ältesten Städten der Welt), und die Häuser sind zwar schön, aber riechen nicht gut, weil hier jeder an jede Mauer pinkelt. Natürlich hat kaum ein Auto einen Katalysator und kaum ein Motorrad einen Auspuff mit weniger als sieben Löchern, was das Atmen zu etwas macht, von dem eigentlich abzuraten
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