Der Joker
wunderschön.«
Jetzt deute ich auf Marv, der so aufrecht, wie ihm möglich ist, vor Mr Boyd steht. Henrys Arme hängen schlaff herab. Sie sind kurz und muskelbepackt. Ich sage: »Er mag Schande über Sie gebracht haben, und ich weiß, dass Sie deswegen die Stadt verlassen haben.« Wieder schaue ich die leicht blutverschmierte Gestalt meines Freundes an. »Aber was er gerade getan hat, wie er Ihnen gegenübergetreten ist - das geschah aus Hochachtung. Anständiger oder ehrenhafter kann man sich nicht benehmen.« Marv zittert und trinkt einen kleinen Schluck seines Bluts. »Er
wusste, was ihn hier erwarten würde, und trotzdem ist er gekommen.« Jetzt lasse ich meine Augen in die seinen eintreten. »Wenn Sie an seiner Stelle wären, hätten Sie dann dasselbe getan? Hätten Sie sich jemandem wie sich selbst gestellt?«
Die Stimme des Mannes ist jetzt leise.
»Bitte«, fleht er. Ich spüre, wie sich ein unendlich großes Mitgefühl für diesen Mann in mir breit macht. »Geht einfach weg. Lasst uns in Ruhe.«
Wir bleiben.
Ich verweile noch ein paar Augenblicke länger in seinem Herzen und sage ihm: Denken Sie darüber nach.
Am Wagen angekommen, merke ich, dass ich allein bin.
Ich bin allein, weil dort in der Einfahrt ein junger Mann mit Blut auf den Lippen ein paar Schritte gemacht hat. Er ist auf das Haus zugegangen. Auf das Mädchen, mit dem er sich in einem Maisfeld getroffen und das er dort bis zum Morgengrauen geliebt hat. Sie steht auf der Veranda.
Sie schauen. Einander. An.
9
Die Schaukel
Eine Woche trabt vorbei.
An diesem Abend in meinem Taxi, auf dem Weg von der Cabramatta Street in Auburn nach Hause, hat Marv einfach nur dagesessen und meinen Beifahrersitz voll geblutet. Er hat seinen Mund berührt. Seine Lippe platzte auf, und das Blut kam herausgerutscht, ein gleichmäßiger,
dicker Strom. Als es den Sitz beschmutzte, habe ich ihn verflucht.
Seine Antwort bestand nur aus zwei Worten.
»Danke, Ed.«
Ich glaube, er war froh, dass ich ihn nicht anders behandelte als sonst - auch wenn er und ich niemals mehr die Freunde sein würden, die wir einmal waren. Dieses Ereignis hatte sich in uns eingebrannt.
Eines Morgens, als ich vom Parkplatz des Taxiunternehmens fahren will, winkt mich Marge zu sich. Sie kommt auf mich zugerannt und wedelt mit den Armen. Ich halte an, kurbele das Fenster herunter und sie schnappt nach Luft. »Gut, dass ich dich erwischt habe. Gestern Abend kam ein Anruf für dich. Irgendein Job. Es hörte sich irgendwie persönlich an, Ed.« Mir fällt auf, dass Marge eine Menge Falten hat. Irgendwie passt das zu ihrer Freundlichkeit. »Ich wollte es nicht über Funk durchgeben.«
»Um was geht es?«, frage ich.
»Es war eine Frau, oder ein Mädchen, und sie verlangte ausdrücklich nach dir. Heute, zwölf Uhr.«
Ich fühle es und ich weiß es.
»Cabramatta Road?«, frage ich. »Auburn?«
Marge nickt.
Ich bedanke mich bei ihr, und Marge sagt: »Gern geschehen.« Im ersten Moment will ich Marv anrufen und es ihm sagen. Aber ich lasse es bleiben. Der Kunde ist König. Ich habe schließlich eine Berufsehre. Nein, stattdessen fahre ich dorthin, wo er im Augenblick arbeitet, auf einer Baustelle in der Nähe der Havanna Street. Der Kleinlaster
seines Vaters steht da, und das ist alles, was ich wissen wollte. Ich fahre weiter.
Punkt zwölf Uhr fahre ich bei Suzanne Boyd vor. Ich habe kaum angehalten, da kommt sie auch schon heraus, mit ihrer Tochter an der Hand und einem Kindersitz.
Wir bleiben einen Moment lang stehen.
Suzanne hat lange honigfarbene Haare und kaffeebraune Augen, viel dunkler als meine. Ohne den Schuss Milch. Sie ist hager. Ihre Tochter hat die gleiche Haarfarbe, aber die Haare sind noch ziemlich kurz. Die Strähnen locken sich um ihre Ohren und sie lächelt mich an.
»Das ist Ed Kennedy«, sagt ihre Mutter zu ihr. »Sag Hallo, Liebling.«
»Hallo, Ed Kennedy«, sagt das Mädchen.
Ich gehe in die Hocke. »Und wie heißt du?« Sie hat Marvs Augen.
»Melinda Boyd.« Die Kleine hat das strahlendste Lächeln der Welt.
»Sie ist Weltklasse«, sage ich zu Suzanne.
»Danke.«
Sie öffnet die hintere Autotür, schnallt den Kindersitz fest und setzt dann ihre Tochter hinein. Es trifft mich wie ein Schlag, dass Suzanne jetzt wirklich und wahrhaftig Mutter ist. Ich betrachte ihre Hände, mit denen sie Melinda im Kindersitz sichert. Sie ist so hübsch wie eh und je.
Suzanne arbeitet Teilzeit. Sie hasst ihren Vater. Sie hasst sich selbst,
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