Der Joker
stehe ich da wie erstarrt, dann drehe ich mich um und gehe weg.
Sehr, sehr schnell.
Bei Ritchie durchlebe ich die Szene wieder und wieder, während die anderen ihre Karten in der Hand halten und miteinander schwatzen.
»Wohin sind deine Eltern denn gefahren, Ritchie?«, will Audrey wissen.
Eine längere Pause entsteht, während der Ritchie über die Frage nachdenkt. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
»Du machst wohl Witze?«
»Sie haben’s mir gesagt, aber ich hab’s vergessen.«
Audrey schüttelt den Kopf und Marv lacht durch den Rauch seiner Zigarre hindurch.
Ich denke an die Henry Street.
An diesem Abend gewinne ich zur Abwechslung mal.
Ein paar Runden verliere ich, aber irgendwie schaffe ich es, die meisten Spiele für mich zu entscheiden.
Marv redet über den Knochenbrecher. »Habt ihr schon gehört?«, pafft er mit der Zigarre im Mund zu Ritchie und mir. »Die Falken haben dieses Jahr einen neuen Spieler. Angeblich kommt er mindestens auf hundertfünfzig.«
Ritchie: »Hundertfünfzig was? Kilo?«
Wie Marv und ich selbst hat auch Ritchie in den letzten Jahren mitgespielt, und zwar auf dem Flügel, aber er hat noch weniger Interesse an dem Spiel als ich. Während der Spielphasen, in denen wenig passiert, steht er meistens am Spielfeldrand und trinkt mit den Zuschauern ein, zwei Flaschen Bier.
»Volltreffer, Ritchie«, nickt Marv. Seine Miene ist ernst, geschäftsmäßig. »Hundertfünfzig fette Kilo.«
»Spielst du auch, Ed?«
Die Frage kommt von Audrey. Sie weiß genau, dass ich mitspiele, aber sie versucht, mir mit dieser Frage näher zu kommen. Seit unserem Gespräch vor ihrem Haus, wo ich »Nur Ed« war, weiß sie nicht so recht, wie sie mit mir umgehen soll. Ich schaue sie an und verziehe meinen Mund zu einem leichten Lächeln. Sie weiß, dass ich ihr vergeben habe.
»Ja«, antworte ich, »ich spiele auch.«
Das Lächeln, das sie mir zurückgibt, sagt mir: Das ist schön . Schön, dass wir uns wieder vertragen. Der Knochenbrecher ist Audrey völlig egal. Sie hasst Football.
Später, als das Kartenspiel vorüber ist, kommt sie mit zu mir, und wir trinken noch was in der Küche.
»Läuft’s noch gut mit deinem neuen Freund?«, frage ich sie. Ich fege Brotkrümel in die Spüle. Als ich mich umdrehe, fällt mein Blick auf ein paar Tropfen getrocknetes Blut am Boden. Blut von meinem Kopf, zwischen all den Hundehaaren. Überall Erinnerungen.
»Nicht übel«, erwidert sie.
Ich möchte ihr gerne sagen, dass es mir Leid tut, dass ich damals einfach so bei ihr aufgetaucht bin, aber ich halte meinen Mund. Wir vertragen uns wieder, und es hat keinen Sinn, über etwas zu reden, was man nicht ändern kann. Ein paarmal bin ich ganz nah dran, aber ich lasse es sein. Es ist besser so.
Ich stelle den Toaster zurück auf die Arbeitsplatte. In dem Moment sehe ich mein Spiegelbild in der verchromten Seite (auch wenn das Gerät ziemlich verschmiert ist). Meine Augen wirken unsicher, fast verletzt. In diesem Moment erkenne ich den jämmerlichen Zustand, in dem sich mein Leben befindet. Dieses Mädchen, das ich nicht haben kann. Diese Botschaften, von denen ich glaube, dass ich sie nicht überbringen kann... Aber dann sehe ich, wie meine Augen einen entschlossenen Ausdruck annehmen. Ich sehe mein zukünftiges Ich, das wieder zur Henry Street geht, zu Thomas O’Reilly. Ich trage meine dreckige, alte Jacke, habe kein Geld dabei und auch keine Zigaretten, genauso wie letztes Mal. Aber diesmal werde ich es zur Eingangstür schaffen.
Ich muss einfach , denke ich, und dann sage ich zu Audrey: »Ich weiß jetzt, wohin ich gehen muss.«
Sie nippt an dem billigen Grapefruitsaft, den ich ihr eingeschenkt habe, und fragt: »Wohin?«
»Diesmal sind es drei Namen.«
Die eingeritzten Namen auf dem riesigen Felsen tauchen vor meinem geistigen Auge auf. Aber ich spreche sie nicht aus. Wie ich schon sagte, es hat keinen Sinn.
Sie platzt fast vor Neugier.
Ich merke es genau.
Kein einziges Wort schlüpft aus ihrem Mund. Das muss ich Audrey zugute halten: Sie drängelt nicht. Sie weiß genau, dass ich ihr gar nichts sagen werde, wenn sie aufdringlich wird.
Das Einzige, was ich preisgebe, ist der Ort, wo ich die Namen gefunden habe.
»Da war ein Typ, der wollte die Fahrt nicht bezahlen, und er ist dorthin gelaufen...«
Audrey schüttelt nur den Kopf. »Wer immer sich das ausgedacht hat, macht sich eine Menge Arbeit mit der Sache.«
»Und er kennt mich ganz offensichtlich unglaublich gut -
Weitere Kostenlose Bücher