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Der Judas-Code: Roman

Titel: Der Judas-Code: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Rollins , Norbert Stöbe
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die kleine Klinge aus und reichte das Messer Vigor. »Die Zeit läuft uns davon.«
    Vigor seufzte und nahm das Messer entgegen. Schlechten Gewissens löste er die Verschlusskappe. Sie sprang auf, als wäre sie erst gestern gefertigt worden.
    Vigor räumte eine Stelle auf dem Tisch frei. Etwas Weißes rutschte auf die Tischplatte aus Mahagoni.
    »Eine Schriftrolle«, sagte Gray.
    Er verfügte über jahrelange Erfahrung. Ohne die Schriftrolle zu berühren, betrachtete er sie eingehend. »Das ist kein Pergament, kein Velinpapier und auch kein Papyrus.«
    »Was dann?«, fragte Balthazar.
    Vigor bedauerte, dass er keine Handschuhe dabeihatte. Da er die alte Schriftrolle nicht mit Fingerabdrücken verschmutzen wollte, nahm er einen Bleistift vom Schreibtisch des Museumsdirektors und hob damit vorsichtig eine Ecke des Schriftstücks an.
    Die äußerste Schicht des hauchdünnen, weißen Materials löste sich mühelos.
    »Sieht aus wie Stoff«, meinte Gray.
    »Seide.« Vigor rollte die Schriftrolle immer weiter aus, bis sie auf dem Tisch ausgebreitet war. »Der Stoff ist bestickt«, sagte er und deutete auf die mit schwarzem Faden ausgeführten Stiche.
    Die Stickereien ergaben jedoch kein Bild und auch kein Muster. Stattdessen war in Schreibschrift ein Text auf den Stoff gestickt, der die ganze Breite der Schriftrolle einnahm.
    Gray verdrehte den Kopf, doch sein Stirnrunzeln vertiefte sich, da er nichts verstand.
    Vigor konnte den Blick nicht von dem Text abwenden. »Das ist der italienische Dialekt, der in Marco Polos Heimatregion gesprochen wurde.« Mit zitternder Hand führte er den Bleistiftradierer an der ersten Zeile entlang und übersetzte laut: »Unsere Gebete wurden auf höchst eigenartige Weise erhört.«
    Er blickte Gray an. In den Augen des Amerikaners dämmerte Begreifen.

    »Das ist der Rest von Marcos Bericht«, sagte Gray, »der dort anknüpft, wo das Buch der Gilde endet.«
    »Die fehlenden Seiten«, sagte Vigor. »Als Seidenstickerei.«
    Gray blickte nervös zur Tür und schwenkte ungeduldig die Hand. »Lesen Sie auch den Rest vor.«
    Vigor begann noch einmal von vorn. Im ersten Teil des Berichts hatte Marco Polo mit seinen Begleitern in der Totenstadt festgesessen und war von einer Kannibalenhorde umzingelt worden. Bedachtsam übersetzte Vigor nun den nächsten Teil des Berichts. Seine Stimme zitterte ob der Wucht von Marco Polos Worten.
     
    Unsere Gebete wurden auf höchst eigenartige Weise erhört. Und zwar geschah Folgendes:
    Die Nacht brach über die Totenstadt herein. Von unserem Zufluchtsort aus konnten wir die Wassergräben und Teiche der Stadt sehen, von denen ein fahles Leuchten ausging; der Lichtschimmer stammte vom Moder und allerlei Pilzen. Die grauenhafte Szenerie, die sich unseren Blicken darbot, schien der Hölle entsprungen. Es sah aus, als verspeisten sich die Toten gegenseitig. Wir hatten keinerlei Hoffnung mehr. Welcher Engel würde es wagen, dieses verfluchte Land zu betreten?
    Dann aber geschah es, dass drei Gestalten aus dem finsteren Wald hervortraten. Und so sahen sie aus: Ihre Haut leuchtete wie die Teiche und Wassergräben, und die schrecklichen Kannibalen teilten sich vor ihnen wie ein Kornfeld, in das der Wind fährt. Die drei Gestalten schritten ohne Hast durch die Stadt, wandten sich jedoch in unsere Richtung. Als sie den Fuß des Turms erreicht hatten, sahen wir, dass die seltsamen Erscheinungen zum Stamm der Menschenfresser gehörten. Dennoch ging von ihrer Haut das segensreiche Leuchten aus.
    Von Grauen erfasst, ließen die Männer des Kaans ihre Waffen fallen und bargen die Gesichter an der Wand. Die drei betraten unsere Zuflucht und näherten sich uns unbehelligt. Ihre Gesichter waren ausgemergelt und vom Fieber gezeichnet; doch es waren Männer aus Fleisch und Blut, genau wie ihre Brüder unten in der Stadt. Ihr Leib war jedoch anders als der gewöhnlicher Menschen. Das Leuchten ihrer Haut drang tief in den Körper ein, sodass
wir verschwommen die Bewegung der Eingeweide und das Schlagen ihrer Herzen sehen konnten. Zufällig streifte einer der drei einen der Männer des Kaans. Er wich mit einem Aufschrei zurück, und an der Berührungsstelle bildeten sich schwarze Blasen.
    Pater Agreer reckte den Fremden sein Kreuz entgegen; der erste der drei aber trat furchtlos vor und berührte das Kruzifix des Dominikanermönchs. Er sagte etwas in einer unverständlichen Sprache, doch auch ohne viel Gestikulieren begriffen wir, was er von uns wollte. Wir sollten den Saft aus der

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