Der Judas-Code: Roman
durchquerten. Sie justierte die Schärfe nach, damit sie die Gesichter genau erkennen und sich einprägen konnte. Sie wollte herausfinden, ob bestimmte Leute mehrfach das Tor durchquerten.
Sie wollte den Aufenthaltsort möglichst vieler Gegner feststellen.
Für den Fall, dass sie eingreifen musste.
Bislang war ihr nichts aufgefallen. Das ergab keinen Sinn.
Wo steckten Nassers Leute? Sie hätten längst auf Posten sein sollen. Was Einsatzkräfte und Ausrüstung anging, konnte die Gilde hier in Istanbul aus dem Vollen schöpfen. Die Waffen, die sie mit Kowalski gekauft hatte, waren Beweis genug. Oder hielt Nasser sich zurück und beschränkte die Einsatzkräfte auf das Nötigste? Mit ein, zwei Männern fiel man weniger auf als mit einem halben Dutzend.
Doch das mochte Seichan nicht glauben.
»Irgendwas stimmt da nicht«, murmelte sie, sodass der Bildausschnitt ruckte.
Welches Spiel spielte Nasser?
Sie konzentrierte sich wieder auf das Beobachten. Ein großer Mann trat aus dem Kirchenausgang und eilte mit großen Schritten über den Platz, ohne sich zu verstecken. Seichan zielte auf ihn und musterte sein bärtiges Gesicht.
Der kam schon eher in Frage.
Sie kannte seinen Namen nicht, hatte ihn aber schon einmal gesehen, nämlich vor zwei Jahren zusammen mit Nasser. Damals hatte ein dicker Umschlag den Besitzer gewechselt. Seichan hatte eine Reihe von Fotos des unbekannten Agenten in einem Schweizer Bankfach deponiert. Gleichsam als vorausschauende Investition für schlechte Zeiten.
Oder für sonnige Zeiten wie heute.
»Kein Wunder, dass Nasser auf Sparflamme kocht«, murmelte sie.
Der Mistkerl hatte jemanden im Inneren der Hagia Sophia postiert. Das ließ nichts Gutes ahnen. Wenn der Mann sich davonmachte, konnte das nur bedeuten, dass ihn jemand abgelöst hatte.
Mitten auf dem Platz blieb er stehen und holte ein Handy hervor.
Wahrscheinlich teilte er Nasser gerade mit, dass seine Beute noch immer in der Kirche war.
Ihr Handy klingelte.
Merkwürdig.
Blindlings tastete sie nach dem Handy, drückte die Gesprächstaste und hielt es sich ans Ohr. »Ciao«, sagte sie.
»Hallo«, meldete sich der Anrufer mit munterer Stimme. »Ich würde gern mit einer Frau namens Seichan sprechen. Man hat mir gesagt, ich solle diese Nummer anrufen und ein Treffen verabreden. Ein gewisser Monsignore und ein Amerikaner möchten, dass wir uns unterhalten.«
Fröstelnd fixierte sie den Mann auf dem Platz, dessen Lippen sich synchron zu der Handystimme bewegten.
»Ich bin Balthazar Pinosso von der kunsthistorischen Abteilung des Vatikans.«
Jetzt kannte Seichan also den Namen des Mannes auf den Fotos. Balthazar Pinosso. Ein Agent der Gilde. Sie atmete durch die Nase. Nasser hatte nicht nur jemanden in der Kirche postiert - er hatte einen Agenten in ihre gottverdammte Gruppe eingeschleust.
Seichan hätte sich in den Hintern beißen können. Der Maulwurf der Gilde war nicht bei Sigma zu finden. Sondern im Vatikan.
»Hallo?«, wiederholte der Mann mit einem Anflug von Besorgnis.
Seichan presste die Wange an den Gewehrschaft und zielte sorgfältig.
Es war an der Zeit, die undichte Stelle zu stopfen.
»Kowalski...«, flüsterte sie.
»Yeah?«
»Gleich wird hier die Kacke am Dampfen sein.«
»Wurde auch allmählich Zeit!«
Seichan drückte ab.
10
Vom Regen in die Traufe
6. Juli, 19:12
An Bord der Mistress of the Seas
Gott sei Dank war die Cocktailparty endlich vorbei.
Lisa knöpfte eilig das perlenbestickte Oberteil auf, das sie über dem seidenen Plisseerock trug. Die schwarze Garnitur von Vera Wang hätte sie sich niemals leisten können, doch als sie sich für Ryder Blunts Abendempfang aus Anlass der Ankunft im Heimathafen der Piraten umkleiden wollte, hatte sie auf dem Bett gelegen.
Dr. Devesh Patanjali hatte das Kleid offenbar persönlich in einem der luxuriösen Läden auf dem Lido-Deck ausgesucht. Das allein war schon Grund genug, sich darin unwohl zu fühlen. Lisa hatte nicht an der Party teilnehmen wollen, doch Devesh hatte ihr keine Wahl gelassen. Deshalb hatte sie sich in Ryders Suite mit ihren Kollegen getroffen.
Der Champagner und der gekühlte Wein flossen in Strömen. Auf Silbertabletts wurden von livrierten Obern Horsd’œuvres gereicht, auf den Büfetttischen standen Tabletts mit eisgekühltem Kaviar und Toastschnittchen. Offenbar waren noch genug Mitglieder des Schiffsorchesters am Leben, um ein Streichquartett bilden zu können. Im Schein der untergehenden Sonne spielten sie auf dem Balkon,
Weitere Kostenlose Bücher