Der Judas-Code: Roman
die Hocke und betrachtete das leuchtende Zeichen,
das er nur allzu gut kannte. Das Symbol des Ordinis Draconis. Des Kaiserlichen Drachenordens.
Balthazar erwiderte seinen Blick. Seine Augäpfel leuchteten weiß im UV-Licht. Der Drachenorden hatte vor zwei Jahren mit Unterstützung Prefetto Albertos, des verräterischen ehemaligen Präfekten des Geheimarchivs, den Turm niedergebrannt. Vigor hatte geglaubt, mit dessen Tod wäre diese Angelegenheit ein für alle Mal erledigt, zumal der Turm inzwischen phönixgleich aus Rauch und Asche wiedererstanden war.
Was hatte das Zeichen zu bedeuten?
Vigor kniete nieder. Sein linkes Knie war steif und schmerzte. Die Zeichnung war flüchtig hingeschmiert, nur eine grobe Annäherung.
Balthazar blickte ihm über die Schulter. »Ich habe die Zeichnung mit einer Lupe untersucht. Unter der fluoreszierenden Farbe befindet sich etwas Gips. Das deutet daraufhin, dass sie erst vor Kurzem angebracht wurde. Erst in dieser Woche, würde ich sagen.«
»Der Dieb...«, brummte Vigor.
»Vielleicht war das gar kein gewöhnlicher Dieb.«
Vigor massierte sich das Knie. Das Zeichen ließ Böses ahnen. Eine Drohung oder eine Warnung, vielleicht auch eine Botschaft für einen anderen Maulwurf des Drachenordens. Er musste an Balthazars Formulierung denken: Wir haben eine grauenhafte und zugleich wundervolle Entdeckung gemacht. Den Drachen vor Augen, verstand Vigor immerhin, was er mit grauenhaft gemeint hatte.
Er blickte sich über die Schulter um. »Sie haben am Telefon auch den Ausdruck >wundervoll< gebraucht.«
Balthazar nickte. Er langte hinter sich und öffnete wieder die Tür. Tageslicht strömte herein. Der fluoreszierende Drachen verschwand, als scheute er das Licht.
Vigor stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
»Sehen Sie sich das mal an.« Balthazar kniete neben Vigor nieder. »Wenn uns nicht die Drachenzeichnung aufgefallen wäre, hätten wir das übersehen.«
Er stützte sich mit der Linken ab und streckte den rechten Arm vor. Mit den Fingerspitzen streifte er über den Marmorboden.
»Ich habe es entdeckt, als ich mit der Lupe die fluoreszierende Farbe untersucht habe. Während ich auf Sie wartete, habe ich den Schmutz von Jahrhunderten von dem Relief entfernt.«
Vigor musterte den Boden. »Von welchem Relief?«
»Gehen Sie näher ran. Hier.«
Vigor konzentrierte sich. Wie ein Blinder, der Brailleschrift las, ertastete er schließlich eine leicht erhabene Inschrift.
Vigor war sogleich klar, dass das Relief sehr alt war. Die Zeichen waren so abstrakt wie eine wissenschaftliche Notiz, doch dies war nicht das Gekritzel eines Physikers. Als ehemaliger Leiter des Pontifikalinstituts für christliche Archäologie wusste er, was er da vor sich hatte.
Balthazar hatte seine Gedanken anscheinend erraten. Er senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Ist es wirklich das, was ich darin vermute?«
Vigor ließ sich zurücksinken und wischte sich den Staub von den Fingern. »Eine Schrift, die noch älter ist als das Hebräische«, murmelte er. »Angeblich die erste Sprache überhaupt.«
»Wie kommen die Zeichen hierher? Was bedeuten sie?«
Kopfschüttelnd betrachtete Vigor den Boden. Ihn beschäftigte bereits eine andere Frage. Im Geiste erblickte er wieder das Drachenzeichen, diesmal nicht von einer UV-Lichtquelle, sondern von seiner Angst sichtbar gemacht. Der Drache auf dem Stein war um die Inschrift zusammengerollt, als wollte er sie beschützen.
Balthazars Bemerkung ging ihm durch den Kopf. Wenn uns nicht die Drachenzeichnung aufgefallen wäre, hätten wir das übersehen. Vielleicht sollte der Drache die Inschrift ja nicht beschützen, sondern vielmehr erhellen oder hervorheben.
Doch für wessen Augen war dies gedacht?
Als Vigor sich den gekrümmten Drachen vorstellte, meinte er, wieder das Gewicht des qualmenden, verkohlten Jakob auf den Armen zu spüren.
Plötzlich ging Vigor ein Licht auf. Die Botschaft war nicht an einen
Agenten des Drachenordens gerichtet, an einen Verräter wie Präfekt Alberto. Sie richtete sich an eine Person, die eine enge Verbindung zur Geschichte des Drachenordens hatte und in der Lage war, ihre Bedeutung zu erkennen.
Die Botschaft war für ihn gedacht.
Aber was bezweckte sie? Was bedeutete sie?
Vigor richtete sich schwerfällig auf. Er kannte jemanden, der ihm würde helfen können, jemanden, den er seit Jahren nicht mehr angerufen hatte. Bis jetzt hatte es keinen Grund gegeben, mit ihm in Verbindung zu treten, zumal der Mann
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