Der Judas-Code: Roman
aber sehnte er sich danach, endlich mit der Vergangenheit abzuschließen.
Selbst der berühmte Meridian-Saal in der Turmspitze, wo Galileo nachgewiesen hatte, dass sich die Erde um die Sonne drehte, war nahezu wiederhergestellt. Achtzehn Monate hatten die zahlreichen Künstler und Kunsthistoriker gebraucht, um die beim Feuer zerstörten Fresken sorgfältig zu restaurieren.
Wenn sich doch auch alles andere mit Pinsel und Farbe wiederherstellen ließe.
Als frisch ernannter Präfekt des Archivio Segreto Vaticano wusste Vigor, welche Schätze des vatikanischen Geheimarchivs den Flammen, dem Rauch und dem Löschwasser zum Opfer gefallen waren. Tausende alte Bücher, illustrierte Texte und regestra - ledergebundene Dokumente aus Pergament und Papier. In den letzten hundert Jahren hatten die Räumlichkeiten des Turms all das aufgenommen, was im carbonile, dem Hauptspeicher des Archivs, keinen Platz mehr fand.
Jetzt gab es betrüblicherweise neuen Lagerraum.
»Prefetto Verona!«
Vigor kehrte in die Gegenwart zurück und wäre beinahe zusammengeschreckt. Doch es war nur sein Assistent, ein junger Seminarstudent namens Claudio, der ihn von oben gerufen hatte. Er erwartete Vigor im Meridian-Saal, denn er war lange vor seinem um viele Jahre älteren Professor hier angekommen. Der junge Mann hielt ihm die durchsichtige Abdeckplane auf, die den Eingang verschloss.
Vor einer Stunde war Vigor vom Leiter des Restaurationsteams in den Turm gerufen worden. Der Anruf des Mannes war ebenso dringlich wie geheimnisvoll gewesen. Kommen Sie schnell. Wir haben eine grauenhafte und zugleich wundervolle Entdeckung gemacht.
Vigor hatte daraufhin sein Büro verlassen und den langen Aufstieg in die Spitze des frisch renovierten Turms in Angriff genommen. Er hatte nicht einmal die schwarze Soutane abgelegt, die er extra wegen eines geplanten Treffens mit dem vatikanischen Staatssekretär angezogen hatte. Bald darauf hatte er seine Kleiderwahl bedauert, denn für den beschwerlichen Aufstieg war die Soutane zu schwer und zu warm. Jetzt endlich aber stand er vor seinem Assistenten und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
»Treten Sie ein, prefetto.« Claudio hielt die Plastikplane hoch.
» Grazie , Claudio.«
In dem Raum herrschte eine Backofenhitze, als hätten die Steine die Feuerwärme seit zwei Jahren aufgespeichert. Dabei war es nur die Mittagssonne, die den höchsten Turm des Vatikans aufheizte. Rom litt unter einer besonders schweren Hitzewelle. Vigor betete darum, dass der Torre dei Venti seinem Namen mit einer Windbö Ehre machen möge.
Dabei war ihm bewusst, dass der Schweiß auf seiner Stirn weder von der Hitze noch vom Treppensteigen mit Soutane herrührte. Seit dem Brand hatte er es vermieden, hier hinaufzusteigen. Den abgehenden Räumen wandte er selbst jetzt noch den Rücken zu.
Hier hatte er sich mit seinem damaligen Assistenten treffen wollen.
Mit Jakob.
Den Flammen waren nicht nur Bücher zum Opfer gefallen.
»Da sind Sie ja endlich!«, dröhnte eine Stimme.
Dr. Balthazar Pinosso, der die Restaurierung des Meridian-Saals beaufsichtigte, näherte sich ihm durch den kreisförmigen Raum. Der Mann war ein Riese, über zwei Meter zehn groß und wie ein Arzt ganz in Weiß gekleidet. Seine Füße steckten in Papierschuhen. Er hatte sich eine Gasmaske in die Stirn geschoben. Vigor kannte ihn gut. Balthazar war der Dekan der kunsthistorischen Abteilung der Gregorianischen Universität, deren Pontifikalinstitut für christliche Archäologie Vigor einmal geleitet hatte.
»Präfekt Verona, danke, dass Sie gleich hergekommen sind.« Der Hüne sah auf die Armbanduhr und verdrehte die Augen, eine Anspielung auf Vigors langwierigen Aufstieg.
Vigor wusste seine Spöttelei zu schätzen. Nachdem er die höchste Archivarswürde erlangt hatte, wagten es nur noch wenige, in einem solch lockeren Ton mit ihm zu sprechen. »Hätte ich so lange Beine wie Sie, Balthazar, hätte ich zwei Stufen auf einmal nehmen können und wäre noch vor Claudio eingetroffen.«
»Dann sollten wir das hier rasch hinter uns bringen, damit Sie Ihr Mittagsschläfchen fortsetzen können. Solch emsige Arbeiter störe ich nur ungern.«
Trotz seiner Jovialität wirkte er angespannt. Vigor fiel erst jetzt auf, dass Balthazar alle Männer und Frauen, die mit Restaurierungsarbeiten beschäftigt waren, fortgeschickt hatte. Daraufhin bat er Claudio, im Treppenhaus zu warten.
»Würden Sie uns einen Moment allein lassen,
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