Der Judas-Code: Roman
Nachbarn bellte erbost.
Mist...
In der Werkstatt fluchte sein Vater. »Gray? Bist du das? Hilf mir mal eben, verdammt noch mal!«
Gray zögerte. Nachdem er sich mit seinem Vater heute schon ein Wortgefecht geliefert hatte, wollte er eine mitternächtliche Neuauflage vermeiden. In den vergangenen Jahren waren sie eigentlich recht gut miteinander ausgekommen und hatten nach lebenslanger Entfremdung wieder eine gemeinsame Basis gefunden. Als sich im vergangenen Monat jedoch das Ergebnis des Kognitionstests verschlechterte, war der schweigsame Mann auch wieder reizbar geworden.
»Gray!«
»Einen Moment!« Er warf den Abfall in eine der offenen Tonnen
und rückte die Glastonne zurecht. Dann wappnete er sich und trat in den Lichtschein, der aus der offenen Werkstatt strömte.
Der Geruch von Sägemehl und Öl erinnerte ihn an schlimmere Zeiten. Hol den verdammten Riemen, du Miststück... In Zukunft wirst du’s dir zweimal überlegen, bevor du mein Werkzeug benutzt... Zieh deinen Kopf aus deinem Arsch, sonst mach ich dir Beine...
Sein Vater kniete neben einem umgekippten Plastikbecher inmitten von verstreuten Nägeln auf dem Boden und versuchte sie einzusammeln. Von seiner linken Hand tropfte Blut.
Bei Grays Eintreten schaute sein Vater hoch. Im Licht der Neonröhren war ihrer beider Ähnlichkeit nicht zu übersehen. Ihre Augen hatten die gleiche stahlblaue Farbe. Die scharfen Kanten und Furchen ihres Gesichts verrieten die walisische Abstammung. Der entkam man nicht so leicht.
Gray näherte sich seinem Vater und zeigte zur Spüle. »Wasch das mal ab.«
»Sag mir nicht, was ich zu tun und lassen habe.«
Gray setzte zu einer Entgegnung an, besann sich aber, bückte sich und half seinem Vater beim Aufsammeln der Nägel. »Was ist passiert?«
»Hab nach Holzschrauben gesucht.« Sein Vater zeigte mit der verletzten Hand zur Werkbank.
»Aber das sind Nägel.«
Sein Vater sah ihn an. »Was du nicht sagst, Sherlock Holmes.« Mühsam bezähmter Zorn funkelte in seinem Blick, doch Gray wusste, dass sein Groll sich diesmal nicht gegen seinen Sohn richtete.
Deshalb hielt er den Mund, klaubte die Nägel auf und legte sie in den Becher. Sein Vater musterte verdutzt seine Hände: die eine blutete, die andere nicht.
»Dad?«
Der groß gewachsene Mann schüttelte den Kopf und sagte leise: »Verdammt noch mal...«
Gray schwieg.
Sein Vater hatte auf den Ölfeldern von Texas gearbeitet, bis ihm nach einem Unfall das eine Bein unterhalb des Knies amputiert
worden war. Der Ölmann wurde zum Hausmann. Gray hatte darunter besonders zu leiden gehabt, denn es war ihm nie gelungen, es seinem Vater recht zu machen.
Er beobachtete, wie sein Vater seine Hände anstarrte und sich einer bitteren Wahrheit bewusst wurde. Vielleicht war sein Altmännerzorn immer schon gegen ihn selbst gerichtet gewesen. So wie jetzt. Vielleicht war weniger die Enttäuschung über seinen Sohn die Ursache, als vielmehr die Erkenntnis, dass er selbst nicht so sein konnte, wie er sein wollte. Und selbst dieses Wissen würde die Krankheit ihm schon bald wieder rauben.
Gray suchte nach Worten.
Das Knattern eines Motorrads lenkte ihn ab. Reifen quietschten, auf dem Asphalt blieb Gummiabrieb zurück.
Gray richtete sich auf und stellte den Becher auf die Werkbank. Sein Vater schimpfte über den Fahrer, in dem er einen betrunkenen Partygast vermutete. Gray löschte das Licht.
»Was soll das?«
»Duck dich«, sagte Gray.
Irgendwas stimmte da nicht...
Das Motorrad tauchte auf, eine schwarze, schwere Yamaha V-max. Mit brüllendem Motor kam sie rutschend zum Stehen. Der Schweinwerfer war ausgeschaltet. Dieser Umstand hatte Gray in Alarmbereitschaft versetzt. Auf der Straße war dem Motorenlärm kein Scheinwerferkegel vorausgeeilt. Das Motorrad fuhr ohne Licht.
Ohne langsamer zu werden, rutschte es mit qualmendem Hinterreifen näher. Der Fahrer versuchte, in die Einfahrt einzubiegen. Das Motorrad schwenkte herum, bremste ab, ruckte wieder vor.
»Was zum Teufel...?«, rief Grays Vater.
Der Fahrer fand das Gleichgewicht wieder, doch dann prallte das Vorderrad gegen die Bordsteinkante. Das Motorrad legte sich auf die Seite. Der Fahrer versuchte, die Maschine abzufangen, rammte mit dem hinteren Kotflügel aber die Verandatreppe.
Das Motorrad ging inmitten eines Funkenschauers zu Boden, eine Fortsetzung des Feuerwerks zum Unabhängigkeitstag. Der Fahrer rollte sich ab, überschlug sich und landete nicht weit von der offenen Garage.
In der Einfahrt begann der
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