Der Judas-Code: Roman
zu erkennen, hinter denen die portugiesischen Verteidiger den Feind abgewehrt hatten.
Sie traten durch die Lücke in der Mauer auf einen gepflasterten Hof. Dornengewächse wuchsen aus den Rissen, ein paar Meter weiter wartete eine große Zisterne auf unvorsichtige Opfer, und im ehemaligen Gärtchen standen zwei dürre Dattelpalmen. Der über die Steine rieselnde Sand erinnerte an die Flüsterstimmen von Gespenstern.
Fee’az zeigt zum sechsstöckigen Hauptgebäude der Burg. Es war gekrönt von Zinnen, zwischen denen verrostete Kanonenrohre hervorragten.
»Ich alles zeigen!«, erklärte Fee’az. »Viel zu sehen!«
Er wollte sich in Bewegung setzen, doch Vigor legte ihm die Hand auf die Schulter. »Gibt es hier eine Kapelle?«
Der Junge stutzte, dann kehrte sein Dauerlächeln zurück. »Ah! Sie durstig.«
Vigor lächelte. »Nein. Wir wollen wissen, ob es hier eine Kirche gibt.«
Der Junge zog die Stirn kraus, lächelte aber unentwegt weiter. »Ah, Christen. Das okay. Alle gut. Muslime lieben die Bibel. Das ist ein heiliges Buch. Wir haben auch Heilige. Muslimische Heilige. Aber Prophet Mohammed ist der beste.« Er zuckte verlegen die Achseln.
Vigor klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken, denn der Junge war offenbar hin- und hergerissen zwischen seinen Pflichten als guter Fremdenführer und braver Moslem.
»Die Kirche?«, sagte er.
Der Junge nickte heftig. »Raum mit den Kreuzen.« Während
er ununterbrochen plapperte, geleitete er sie zu der dunklen Öffnung.
Kopfschüttelnd folgte ihnen Kowalski. »Der sollte mal weniger Kaffee trinken.«
Ein Lächeln hellte Grays finstere Miene auf, was in letzter Zeit nur selten geschah. »Also los«, flüsterte er Seichan zu. Als er an ihr vorbeikam, streifte er sie mit den Fingern.
Unwillkürlich fasste sie zu. Anstatt sich zu ärgern, drückte sie ihm die Hand. Dabei ging es nicht um Zorn oder Frust.
Auch Schuldgefühle waren im Spiel.
Es war ihr zuwider, Gray anzulügen.
17:18
»Oje, das wird schlauchen«, murrte Kowalski.
Gray widersprach ihm nicht.
Die Kapelle lag ebenerdig an der Rückseite der Burg. Nachdem sie den Vorraum durchquert hatten, mussten sie in den niedrigen Gängen die Taschenlampen einschalten. Je weiter sie kamen, desto stiller wurde es. Die Luft roch abgestanden. Ratten huschten vor ihnen davon.
Der Vorraum endete vor einer niedrigen Tür. Sie mussten nicht nur den Kopf einziehen, sondern sich auch bücken. Vigor trat zusammen mit dem Fremdenführer als Erster hindurch. Als er sich in der Kapelle aufrichtete, entfuhr ihm ein Laut des Erstaunens. Gray folgte ihm.
Als er sich aufgerichtet hatte, leuchtete er die dunkle Kapelle mit der Taschenlampe ab.
In die gegenüberliegende Wand war ein kreuzförmiges Fenster eingelassen, das ein wenig Sonnenlicht hereinließ. Eigentlich handelte es sich um zwei rechtwinklig angeordnete Schlitze, zu schmal, um sich hindurchquetschen zu können. Vielleicht hatten sie früher als Schießscharten gedient.
Ein Kreuz aus Sonnenlicht fiel auf einen hüfthohen Steinblock.
Der Altar.
Ansonsten war der Raum leer.
Jedoch nicht schmucklos.
In sämtliche Oberflächen - in Wände, Boden, Decke und sogar den Altar - waren Kreuze eingeritzt. Hunderte, wenn nicht gar tausende. Einige waren nur daumenlang, andere wahre Riesenkreuze.
»Kein Wunder, dass man hier vom Raum der Kreuze spricht«, meinte Vigor.
»Ja, das hat Serienkiller-Charme«, brummte Kowalski. »Muss an der Insel-Inzucht liegen.«
Gray musterte die vielen Kreuze und dachte an das kaum erkennbare Kreuz, das in den Marmorziegel in der Hagia Sophia eingeritzt gewesen war. Er holte das silberne Kruzifix Pater Agreers aus der Tasche. »Jetzt müssen wir nur noch das Kreuz finden, das zu dem hier passt.«
Vigor gesellte sich zu ihnen und bat Fee’az, sie allein zu lassen.
Der Junge reagierte verwirrt, bis der Monsignore auf Grays Kreuz zeigte.
»Wir möchten beten«, erklärte der Monsignore. »Wenn wir fertig sind, kommen wir nach draußen.«
Der Junge nickte und entfernte sich. Auf einmal konnte er es gar nicht erwarten, sie allein zu lassen; offenbar wollte er sich nicht bei einer christlichen Zeremonie erwischen lassen. Er rannte so schnell, als fürchtete er, sie wollten kleine Kinder opfern.
Als sie allein waren, kratzte Gray sich am Kopf, vom Zeitdruck entmutigt. »Eines der Kreuze entspricht exakt dem Kruzifix Pater Agreers. Das müssen wir finden.«
Er teilte die Gruppe auf.
Vier Personen, vier Wände.
Blieben noch der Boden und die
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