Der Judas-Code: Roman
Männer, Frauen und Kinder von der Insel evakuiert wurden. Alle waren mehr oder weniger krank gewesen: Einige waren erblindet, andere hatten lediglich Ausschlag, bei den am schlimmsten Betroffenen löste sich die von Pusteln übersäte Haut in Fetzen ab. Obwohl die Giftkonzentration rasch sank, war die ganze Insel vorsichtshalber zur Sperrzone erklärt worden.
Die Mistress of the Seas , ein großes Luxuskreuzfahrtschiff auf Jungfernfahrt, war ebenfalls evakuiert worden und diente nun als Notlazarett. Außerdem befand sich an Bord das Einsatzzentrum der Weltgesundheitsorganisation, welche die Ursache für die plötzliche Vergiftung dieser Meeresregion untersuchen wollte.
Dies war auch der Grund, weshalb Monk an diesem Morgen am Strand nach Erklärungen für die Tragödie suchte. Lisa war an Bord als Ärztin gefordert, während Monk aufgrund seiner Ausbildung dazu prädestiniert war, diese Schweinerei zu begutachten. Seine Kenntnisse in forensischer Medizin - er hatte Biologie und Medizin studiert - waren der Grund, weshalb er für diese Sigma-Operation ausgewählt worden war. Der als risikoarm eingestufte Einsatz - von ihnen wurde lediglich eine Lagebeurteilung erwartet - sollte ihm nach dreimonatigem Babyurlaub den Wiedereintritt ins Arbeitsleben erleichtern.
Vor diesem Gedanken scheute er zurück. Während er in diesem Dreck herumstapfte, wollte er nicht an seine kleine Tochter denken. Doch er konnte nicht anders. Er sah Penelopes blaue Augen vor sich, ihre rosigen Wangen, ihren unglaublich blonden Haarschopf.
Sie sah ganz anders aus als ihr Vater mit seinem kahlgeschorenen Schädel und dem zerfurchten Gesicht. Wie war es nur möglich, dass aus seinen Genen etwas so Schönes entstanden war? Aber vielleicht hatte ja seine Frau in dieser Beziehung die Karten ausgeteilt. Sogar jetzt verspürte er eine schmerzhafte Sehnsucht nach den beiden, als wären sie durch eine Art Nabelschnur verbunden, über die ihr beider Blut ausgetauscht wurde. Sein Glück vermochte er kaum zu fassen.
Sein Führer, Dr. Richard Graff, ein erfahrener Meeresforscher von der Queensland University, hatte sich auf ein Knie niedergelassen. Über Monks wahre Identität wusste er nicht Bescheid. Man hatte ihm gesagt, Monk sei aufgrund seiner Sachkenntnis von der WHO eingestellt worden. Graff legte den Probenkoffer auf einen flachen Stein. Sein bärtiges Gesicht wirkte hinter dem Helmvisier vor Sorge und Konzentration ganz verkniffen.
Es wurde allmählich Zeit, mit der Arbeit zu beginnen.
Sie waren mit einem Schlauchboot vom Typ Zodiac hergekommen. Der Steuermann, ein Seemann der australischen Marine, wartete außerhalb der Todeszone. In der Nähe überwachte ein Kutter der australischen Küstenwache die Evakuierung.
Obwohl die Insel fünfzehnhundert Meilen nordwestlich von Perth lag, gehörte sie zu Australien. Entdeckt worden war sie im Jahr 1643 zu Weihnachten und anschließend von den Briten in Besitz genommen worden, welche die Phosphatvorkommen abbauen wollten. Sie hatten ein großes Bergwerk angelegt und von den indonesischen Inseln Arbeiter herübergebracht. Obwohl das Bergwerk noch immer in Betrieb war, stellte inzwischen der Tourismus die Haupteinnahmequelle der tropischen Insel dar. Drei Viertel des mit Regenwald bestandenen Hochlands waren unter Naturschutz gestellt.
So bald würden keine Touristen mehr hierherströmen.
Monk gesellte sich zu Dr. Richard Graff.
Als der Meeresforscher ihn bemerkte, deutete er mit seiner behandschuhten Hand auf den Todesstrand. »Wenn man den Berichten der einheimischen Fischer Glauben schenken kann, hat es vor gut vier Wochen angefangen«, erklärte Graff. »Die Hummerfallen waren voller leerer Schalen, das Fleisch hatte sich aufgelöst. Wenn
die Fischer ihre Schleppnetze aus dem Wasser zogen, bekamen sie Blasen an den Händen. Und es wurde immer schlimmer.«
»Was, glauben Sie, ist hier passiert? Könnte vielleicht Gift ins Wasser gelangt sein?«
»Gift ist zweifellos im Spiel, aber es handelt sich um keinen Unfall.«
Der Wissenschaftler entfaltete einen schwarzen Beutel mit aufgedrucktem Gefahrensymbol, dann zeigte er auf die nahe Brandung. Auf dem Wasser schwamm gelblicher Schaum, ein giftige Mischung aus aufgelöstem Fleisch und Knochen.
Er schwenkte den Arm. »Das alles ist das Werk von Mutter Natur.«
»Wie meinen Sie das?«
»Was Sie da sehen, ist organischer Schleim. Bestehend aus Cyanobakterien, einem Vorläufer der neuzeitlichen Bakterien und Algen. Vor drei Milliarden Jahren gab es
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