Der Judas-Code: Roman
Ziel.
Monk blickte zwischen den Planken in die Tiefe. Zumindest war Susan im Moment nicht in Gefahr.
04:02
Um das Leuchten zu verbergen, hatte sie sich das Gesicht mit Asche eingeschmiert. Susan saß auf einem großen Stein, in der Deckung des Waldes. Eine Stunde hatte sie gebraucht, um zum Strand zu gelangen, wo sie auf Monk warten sollte.
Doch sie war nicht allein.
Ein Dutzend Kannibalen, ihre Eskorte, hielten im Dschungel Wache. Eine Frau namens Tikal, ihre Hofdame, kniete neben dem Stein, das Gesicht in den Matsch gedrückt. Seit sie hier angekommen waren, hatte sie sich nicht bewegt.
Susan hatte versucht, sie zu beruhigen, doch die Frau hatte nur umso heftiger gezittert.
Und so saß sie auf dem Stein und wartete. Sie trug einen Umhang aus getrocknetem Schweinsleder, der mit Federn, Muscheln und polierten Steinperlen verziert war. Auf ihrem Kopf saß ein Knochendiadem, das mit dunkler Rindenfaser an der Stirn befestigt war. Die Knochen wiesen alle nach außen wie die Blütenblätter einer makaberen Blume. Man hatte ihr einen Stab aus poliertem Holz gegeben, auf dem ein Menschenschädel steckte.
Eine durchaus passende Ausstattung für die Hexenkönigin von Pusat.
Trotz der schauerlichen Verzierungen wärmte der Umhang, und der Stab hatte ihr auf dem Herweg beim Klettern gute Dienste geleistet. Ihre Begleiter hatten eine Art Regenschirm aus geflochtenen Palmblättern dabei, um ihre Gebieterin trocken zu halten.
Susan blickte zu dem gewaltigen Tarnnetz hoch. Sie war zu schwach, als dass sie mit den anderen zusammen die Kletterpartie hätte wagen können. Deshalb hatte sie auch keine Einwände erhoben, als Monk sie bat, zum Strand zurückzukehren, sich versteckt zu halten und den Ausgang des Kannibalenangriffs auf das Schiff abzuwarten.
Sie wusste, dass es eine lange Nachtwache werden würde.
Erst nach und nach wurde ihr klar, was auf dem Kreuzfahrtschiff geschehen war. Sie selbst hatte überlebt, doch der Mensch, der ihr am nächsten gestanden hatte, war nicht mehr.
Gregg...
Sie wurden von Erinnerungen an ihren Mann überwältigt: sein schiefes Grinsen, sein ausgelassenes Lachen, seine dunklen Augen, der Duft seiner Haut, der Geschmack seiner Lippen... und so weiter.
Er war ihr vollkommen gegenwärtig.
Wie konnte es sein, dass er tot war?
Susan wusste, dass sie ihren Verlust noch gar nicht richtig begriffen hatte. Doch auch so war es schon schlimm genug. Sie fühlte sich wie durch die Mangel gedreht. Alles in ihr war Mus. Der Hals schnürte sich ihr zusammen, und sie begann zu zittern. Funkelnde Tränen rannen ihr über die geschwärzten Wangen.
Gregg...
Lange Zeit schaukelte sie mit dem Oberkörper und gab sich dem Schmerz hin. Sie konnte einfach nichts dagegen tun. Die Woge der Trauer hatte die Gewalt einer Flutwelle, und sie konnte sich ihr ebenso wenig entziehen wie der Anziehungskraft des Mondes.
Irgendwann aber verebbt jede Flut. In ihrem Gefolge überdauerte eine ursprüngliche Empfindung, heraufgespült aus der Tiefe ihres Unbewussten, etwas, das sie bis jetzt nicht hatte zur Kenntnis nehmen wollen. Doch es war da, ebenso unentrinnbar wie die Trauer.
Susan betastete ihren Umhang, starrte die darunter hervorlugende Haut an, die wegen der Cyanobakterien in ihrem Schweiß und ihren Poren leuchtete. Sie betrachtete ihre Handfläche. Das Leuchten erwärmte nicht die Haut, dennoch verspürte sie eine seltsame Wärme - eher wie von einem inwendigen Fieber als wie von Sonneneinstrahlung.
Was geschah mit ihr?
Als Meeresbiologin wusste Susan über die Organismen Bescheid. Cyanobakterien, umgangssprachlich auch als Blaualgen bezeichnet, waren so weit verbreitet wie das Meer. Sie traten in allen möglichen Formen auf: als dünne Fasern, flache Blätter, Hohlkugeln. Für die Evolution hatten sie große Bedeutung gehabt, denn sie waren die Vorläufer der heutigen Pflanzen. Zu Beginn der Erdgeschichte hatten Cyanobakterien zudem den ersten Sauerstoff produziert und die Welt überhaupt erst bewohnbar gemacht. Seitdem hatten sie zahllose Öko-Nischen besiedelt.
Was hatte es dann zu bedeuten, dass sie jetzt in ihrem Körper lebten? Was hatte das mit der Infektion durch das Judas-Virus zu tun? Das ergab keinen Sinn.
Susan konnte diese Fragen nicht beantworten, doch eines wusste sie.
Es war noch lange nicht zu Ende.
Das spürte sie tief in ihrem Innern, ein aufwallendes Gefühl, das sich jeder Beschreibung entzog.
So unaufhaltsam wie die anschwellende Flut.
Susan blickte zwischen den Bäumen
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