Der Judas-Code: Roman
Forschungsdelegation auf Marcos Spuren nach Kambodscha geschickt. Vielleicht brachte sie Abschriften mit zurück, die in die Hände von Trithemius gelangt sind. Daraus könnte er seine Geheimschrift abgeleitet haben. Wenn er von den leuchtenden Engelserscheinungen wusste, die in Marcos Bericht erwähnt sind, ist es durchaus naheliegend, dass er glaubte, diese Schrift sei von den Engeln inspiriert.«
Gray blickte Vigor an. »Aber Sie glauben das nicht, hab ich recht?« Er trat ein paar Schritte zurück und fasste die Wand als Ganzes in den Blick.
Er sieht es auch, dachte Vigor.
Von der Wucht seiner Vermutungen überwältigt, holte er tief Luft. »Trithemius hat behauptet, er habe nach wochenlangem Fasten und meditativer Versenkung von der Schrift Kenntnis erlangt. Ich glaube, genau so war es.«
»Er hat sich das alles zusammenfantasiert, weil ihm diese alte Schrift im Kopf herumgespukt ist«, spöttelte Seichan.
Vigor nickte. »Genau das wollte ich damit sagen. Erinnern Sie sich, dass ich erwähnt habe, die Engelschrift weise große Ähnlichkeiten mit dem Hebräischen auf. Trithemius hat sogar behauptet, seine Schrift sei der reinste Extrakt des hebräischen Alphabets.«
Seichan zuckte mit den Schultern.
»Was wissen Sie über die jüdische Kabbala?«, fragte Vigor.
»Das ist eine mystische Geheimlehre.«
»Genau. Die Anhänger der Kabbala suchen beim Studium der jüdischen Bibel nach mystischen Einsichten in die göttliche Natur des Universums. Sie glauben, in den Formen und Schwüngen des hebräischen Alphabets sei die göttliche Weisheit verborgen. Wenn man darüber meditiere, erlange man tiefe Einsichten in das Universum, auf dessen unterster Stufe wir uns befinden.«
Seichan schüttelte den Kopf. »Wollen Sie damit sagen, dieser Trithemius habe beim Meditieren eine reinere Form des Hebräischen geschaut? Er sei zufällig auf eine Sprache - diese Sprache - gestoßen?« Sie klopfte gegen die Wand. »Auf eine Sprache, die zur Erkenntnis verborgener Weisheit verhilft?«
Gray räusperte sich. »Und ich glaube, verborgen ist hier das Schlüsselwort.« Er winkte Seichan zu sich heran. »Was sehen Sie? Betrachten Sie das ganze Muster. Kommt Ihnen das nicht bekannt vor?«
Seichan schaute einen Moment hin, dann fauchte sie: »Keine Ahnung. Worauf soll ich achten?«
Seufzend trat Gray dicht an die Wand heran. Er fuhr mit dem Finger über eine der Zeichenkaskaden. »Beachten Sie, dass das Muster Spiralen beschreibt wie eine durchbrochene Helix. Vergegenwärtigen Sie sich diesen Abschnitt ganz für sich.«
Seichan blinzelte. »Das wirkt beinahe organisch.«
Gray nickte. »Folgen Sie den Strängen mit den Augen. Hat das nicht Ähnlichkeit mit der Doppelhelix der DNA? Kommt Ihnen das nicht wie eine Genkarte vor?«
Seichan war nach wie vor skeptisch. »In Engelschrift aufgezeichnet?«
Gray entfernte sich ein Stück weit von der Wand. »Mag sein. Es wurde mal ein wissenschaftlicher Vergleich des DNA-Codes mit den Mustern verschiedener Sprachen durchgeführt. Dem Zipfschen Gesetz - einem Statistikwerkzeug - zufolge weisen alle Sprachen ein bestimmtes Wortverteilungsmuster auf. Der bestimmte und der unbestimmte Artikel kommen häufig vor, während Worte wie >Erdferkel< oder >elliptisch< nur selten verwendet werden. Trägt man den Rang eines Wortes gegen die Häufigkeit des Gebrauchs auf, erhält man eine Gerade. Das gilt fürs Englische, Russische und Chinesische gleichermaßen. Alle Sprachen weisen dieses Muster auf.«
»Und der DNA-Code?«, fragte Vigor interessiert. »Der ergibt exakt das gleiche Muster. Das gilt übrigens auch für die menschliche Junk-DNA, die von den meisten Wissenschaftlern als biologischer Abfall betrachtet wird. Diese Studie wurde wiederholt und das Ergebnis bestätigt. Aus irgendeinem Grund ist in unseren Genen eine Sprache codiert. Wir wissen nur nicht, was sie bedeutet. Aber«, Gray wies auf die Wand, »vielleicht handelt es sich hier um die geschriebene Form dieser Sprache.«
Ehrfürchtig streifte Vigor mit der Hand über das Muster. »Da gerät man ins Staunen. Ist es wirklich denkbar, dass Trithemius bei seinen Meditationen auf diese Sprache gestoßen ist?« Als ihm ein neuer Gedanke kam, straffte er sich. »Denken Sie nur mal ans Althebräische und dessen Ähnlichkeit mit der Engelschrift. Könnte es nicht sein, dass alle Schriftsprachen auf einer inhärenten genetischen Erinnerung beruhen? Man fragt sich unwillkürlich, ob diese in unserem Genom verborgene Sprache vielleicht
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