Der Judas-Code: Roman
schneidender Stimme: »D’tay! Bpel k’raowee!«
Susan blieb nicht stehen. Offenbar wollte sie zwischen den beiden Männern hindurchgehen.
Der andere Soldat packte sie bei der Schulter und riss sie halb herum. Sein stoisches Gesicht verzerrte sich vor Schmerzen. Er zog die Hand ruckartig zurück. Seine Handfläche war knallrot; von seinen Fingerspitzen tropfte Blut. Er taumelte zurück und brach an der Mauer zusammen.
Der Kambodschaner legte das Gewehr an und zielte auf ihren Kopf, während Susan unbeirrt weiterging.
»Nicht schießen!«, rief Lisa.
Der Soldat blickte sich zu ihr um.
»Bringen Sie uns zu ihm!«, sagte sie und zermarterte sich den Kopf nach dem Namen, den Painter erwähnt hatte. Dann fiel er ihr ein. »Bringen Sie uns zu Nasser!«
10:48
»Seht euch das mal an!«, rief Vigor, der seine Überraschung nicht verhehlen konnte. Er blickte sich zu den anderen um.
Gray untersuchte gerade eine der Stützsäulen. Die Pylone waren ohne Mörtel aus dreißig Zentimeter dicken und einen Meter durchmessenden Sandsteinscheiben errichtet. Er ertastete mehrere tiefe Risse, Ermüdungserscheinungen eines uralten Rückgrats.
Seichan und Kowalski standen bei dem steinernen Gesicht in der Mitte des Raums und schauten zu, wie Nassers Sprengteam den Steinblock präparierte.
Abermals hallte das durchdringende Sirren des Diamantbohrers durch das Tonnengewölbe. Ein weiteres zentimeterdickes Loch wurde dreißig Zentimeter tief in das Gesicht gebohrt. In den anderen Löchern befanden sich bereits verkabelte Sprengladungen, doppelt so viele, wie für den Altar verwendet worden waren. Werkzeug und Sprengmaterial wurden mit Seilen in den Schacht heruntergelassen.
Ein heller Fleck Sonnenschein erhellte das Arbeitsfeld.
Anders als Seichan und Kowalski hatte Vigor es nicht fertiggebracht, bei der Verstümmelung des Buddhagesichts zuzuschauen. Auch jetzt wieder kehrte er den Männern den Rücken zu und musterte die Wand. Abseits des Lichtschachts lag das Gewölbe in tiefem Schatten. Man hatte Vigor eine Taschenlampe gegeben, damit er nach einem anderen Eingang zu der unterirdischen Höhle suchen konnte. Obwohl es ihm zuwider war, Nasser zu helfen, wollte er die Gelegenheit nutzen, um die Beschädigung des Tempels auf ein Minimum zu beschränken.
Allerdings blieb ihm nicht mehr viel Zeit.
Gerade mal zehn Minuten.
Da die Vorbereitungen bereits angelaufen waren, war Nasser
wieder nach oben geklettert. Zuvor hatte er aufs Handy geschaut. Da das Empfangssignal zu schwach war, hatte er ihnen befohlen, sich zur genannten Zeit bereitzuhalten, und war die Hängeleiter hochgeklettert.
Gray stellte sich neben Vigor. »Wie sieht’s aus? Haben Sie den Zugang gefunden?«
»Nein«, antwortete Vigor. Er war die Gewölbewand einmal abgeschritten. Es gab keinen anderen Zugang. Der einzige Weg führte offenbar durch das steinerne Gesicht des Bodhisattvas Lokesvara. »Aber ich habe etwas anderes entdeckt.«
Vigor wartete, bis einer der auf und ab patrouillierenden Bewaffneten vorbeigegangen war, dann hielt er die Taschenlampe flach an die Wand und richtete den Lichtkegel nach oben. Ein eingeritztes Muster trat hervor, ein Relief aus Licht und Schatten, das an die Flachreliefs erinnerte, die sie weiter oben angetroffen hatten. Allerdings war dieses hier nicht figürlich, sondern abstrakt.
»Was ist das?«, fragte Gray, streckte die Hand aus und berührte das Riffelmuster.
Inzwischen hatten sich Seichan und Kowalski zu ihnen gesellt.
Vigor verbreiterte den Lichtkegel der Taschenlampe. »Zunächst dachte ich, das wäre nichts weiter als eine Verzierung. Das Muster bedeckt alle Wände.« Er schwenkte den Arm durchs Gewölbe. »Sämtliche Oberflächen.«
»Was zum Teufel hat das zu bedeuten?«, brummte Kowalski.
»Mit dem Teufel hat das nichts zu tun, Mr. Kowalski«, sagte Vigor. »Das ist Engelschrift.«
Er hielt die Taschenlampe so, dass nur ein kleiner Ausschnitt der Wand beleuchtet wurde. »Schauen Sie genau hin.«
Gray beugte sich vor und fuhr mit den Fingern über das Muster. Allmählich dämmerte es dem Commander. »Das sind ungeordnete Engelszeichen.«
Seichan trat neben Gray und betastete ebenfalls die Wand. »Das ist unmöglich. Haben Sie nicht gesagt, die Engelschrift wäre erst im sechzehnten Jahrhundert erfunden worden?«
Vigor nickte. »Von Johannes Trithemius.«
»Wie kommen dann die Zeichen hierher?«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Vigor. »Vielleicht hat der Vatikan irgendwann mal eine
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