Der Judas-Code: Roman
das Wort Gottes ist.«
»Ich glaube, das ist eine genetische Blaupause«, sagte Gray.
»Eine Blaupause wofür?«, fragte Seichan.
»Wahrscheinlich für eine Schildkröte«, brummte Kowalski.
Vigor schnaubte abfällig, während Seichan und Gray den Mann mit ungläubigem Staunen musterten.
»Was ist?«, sagte Vigor, der spürte, dass sie an einem wichtigen Punkt angelangt waren.
Gray trat näher und senkte die Stimme. »Ich glaube, Sie könnten recht haben.«
»Tatsächlich?«, meinte Kowalski.
Gray erläuterte seine Höhlentheorie. »Der Schildkrötenpanzer steht für die Höhle. Aber was ist mit der eigentlichen Schildkröte? Dem Mythos zufolge ist sie eine Inkarnation des Gottes Vishnu.« Er wies auf die Wand. »Und hier haben wir den Beweis für einen unbekannten biologischen Prozess und geheimes Wissen. Das geht weit über eine Virenerkrankung hinaus. Ich glaube, der Wandcode stellt eine Art Tagebuch dieses Prozesses dar, der möglicherweise noch immer nicht abgeschlossen ist.«
Vigor musterte die Wand, die Blaupause.
Ehe sie ihre Beratung fortsetzen konnten, drang durch den Lichtschacht Lärm herunter.
Als geschlossene Gruppe näherten sie sich wieder dem Schacht. Das Sprengteam hatte die Vorbereitungen offenbar nahezu abgeschlossen. Der Sprengleiter hatte die Zündkabel aufgerollt und mit dem elektronischen Zünder verbunden.
Eine Frau kletterte die Hängeleiter herunter. Vigor vermochte ihr Gesicht im Gegenlicht nicht zu erkennen.
Gray aber erkannte sie sofort und trat überrascht einen Schritt vor. »Lisa...?«
Weiter oben tauchte Nasser am Rand des Lichtschachts auf, neben sich eine aufgeregte, halbnackte Frau. Sie drängte nach vorn, als wollte sie sich in den Schacht stürzen, wurde aber von vier Gewehrläufen in Schach gehalten.
Vigor blickte entgeistert zu ihr hoch.
Allmächtiger...
Die Frau leuchtete.
Obwohl sie sich im Schatten befand, war ihre Haut deutlich zu erkennen.
Das musste eine Täuschung sein.
»Bedeckt die Augen!«, rief sie nach unten und zeigte in die Grube. »Bedeckt die Augen!«
Vigor verstand nicht, was sie meinte.
Gray hingegen schon. Der Commander entriss einem der Sprengleute eine Plane, warf sie über die Augen der Skulptur und unterband den Einfall des Sonnenlichts in die Höhle.
Die Frau brach daraufhin zusammen, als habe jemand die Fäden einer Marionette durchtrennt. Sie sank auf den geborstenen Altarstein nieder.
Nasser betrachtete sie stirnrunzelnd.
Lisa sprang auf den Boden und näherte sich der Gruppe. Sie blickte nach oben, doch ihre Worte waren an die Allgemeinheit gerichtet. »Es tut mir leid.«
11:05
Zehn Minuten später beobachtete Gray, wie der letzte von Nassers Männern die Leiter hochkletterte. Ein Kreis von Gewehrläufen zielte auf sie herunter. Die letzte Werkzeugtasche wurde an einem der beiden Seile hochgezogen und über den Rand des Schachts gehoben. Das andere Seil baumelte noch immer verlockend herab.
»Wieso lassen sie uns hier unten?«, fragte Lisa.
Gray beäugte das mit Sprengstoff gespickte Buddhagesicht. »Ich glaube, wir sind jetzt entbehrlich«, sagte er.
Nach kurzem Schweigen murmelte Lisa eine Entschuldigung. »Ich hatte keine andere Wahl.«
Ihr plötzliches, unerwartetes Auftauchen hatte sie bereits erklärt. Eine Verzweiflungstat, geboren aus der Notwendigkeit, ein Heilmittel zu finden. Sie hatten es riskieren müssen - auch wenn es bedeutete, das Heilmittel der Gilde auszuliefern.
»Aber Monk...«, sagte Lisa mit erstickter Stimme. »Er hat sein Leben geopfert - und jetzt das.«
»Nein.« Gray legte Lisa den Arm um die Schulter. Er wollte sich mit den Tatsachen einfach nicht abfinden. Noch nicht. »So darfst du das nicht sehen. Monk hat euch hierhergebracht. Und solange wir am Leben sind, besteht Hoffnung.«
Nasser beugte sich über den Rand des Schachts. »Wir sind gleich so weit«, verkündete er ganz sachlich und ohne jede Schadenfreude. Jetzt, da er alle Trümpfe in der Hand hielt, gab er sich kühl und höflich. »Monsignore, Sie haben darauf hingewiesen, dass die wissenschaftliche und die historische Fährte hier zusammenfallen würden. Es scheint, als sollten Sie damit recht behalten. Die beiden Hälften von Sigma sind hier versammelt.« Er zeigte in die Tiefe - dann wandte er sich Susan zu, die zusammengesunken dasaß, den Kopf auf die Brust gesenkt. »Außerdem wurden die Anstrengungen der Gilde gebündelt. Hier die Überlebende der wissenschaftlichen Fährte... und dort der Ursprung des
Weitere Kostenlose Bücher