Der Judas-Code: Roman
das dunkle Steingesicht in warmem Sonnenschein.
Das rätselhafte Lächeln des Buddhas hieß ihn willkommen.
An der Seite hing eine zusammengerollte Hängeleiter aus Stahl und Aluminium über den Rand des geborstenen Altars. Klirrend entfaltete sie sich, das untere Ende prallte auf dem Boden der Kammer auf. Das obere Ende war mit Karabinerhaken an der steinernen Decke des Heiligtums befestigt.
Nasser näherte sich Gray. »Sie gehen als Erster runter. Einer meiner Männer kommt nach. Ihre Freunde bleiben einstweilen hier oben.«
Gray wischte sich den Staub von den Händen und ging zur Hängeleiter. Vigor stand an der Wand und schaute verdrossen drein. Wahrscheinlich drückte nicht nur ihre prekäre Lage auf seine Stimmung. Als Archäologe empfand er tiefen Abscheu angesichts der Entweihung des Heiligtums.
Kowalski und Seichan warteten teilnahmslos ab, wie es weitergehen würde.
Gray nickte ihnen zu, dann machte er sich an den Abstieg. In der Grube roch es weniger staubig als vielmehr muffig. Die ersten drei Meter führten durch einen etwa zwei Meter breiten Schacht. Die Wände bestanden aus Steinblöcken, wie bei einem Brunnen. Auf den letzten drei Metern aber traten die Wände zurück, und der Schacht weitete sich zu einem Tunnelgewölbe von etwa zwölf Metern Durchmesser.
»Bleiben Sie in Sichtweite!«, rief Nasser in den Schacht hinunter.
Gray blickte zu den Gewehrläufen hoch, die auf sie herabzielten. Einer der Soldaten kletterte bereits die Leiter hinunter. Gray sprang auf den Boden und landete neben dem steinernen Bodhisattva.
Er schaute sich um. Vier mächtige, in gleichen Abständen angeordnete Steinsäulen stützten das Gewölbe. Wahrscheinlich nahmen sie auch das Gewicht des Turms auf. Der Boden hingegen bestand nicht aus Steinblöcken, sondern aus massivem Kalkstein. Sie hatten das Muttergestein erreicht. Das hier war eindeutig das Fundament des Bayon-Tempels.
Das Klirren der Leiter lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Soldaten, der sich näherte. Gray überlegte, ob er sich auf ihn werfen und ihm das Gewehr entreißen sollte. Doch was dann? Seine Freunde waren oben und wurden streng bewacht; seine Eltern befanden sich noch immer in Nassers Gewalt. Also wandte er sich dem steinernen Gesicht zu und umkreiste es. Es lag flach am Boden und blickte zu ihm auf, aus einem einzigen hüfthohen Sandsteinblock gemeißelt.
Auf den ersten Blick wies das Gesicht keine Unterschiede zu den anderen auf: die gleichen nach oben gebogenen Mundwinkel, die gleiche breite Nase und Stirn, die grüblerischen Augen.
Mit einem lauten Stiefelknallen sprang der Soldat auf den Boden.
Gray straffte sich - dann auf einmal stutzte er.
Er drehte sich wieder um. An dem Gesicht, den grüblerischen Augen, war ihm etwas aufgefallen. In der Mitte waren dunkle Kreise, die wie Pupillen wirkten. Nicht einmal das Sonnenlicht vermochte den Schatten zu zerstreuen.
Gray stützte sich auf die Wange des steinernen Buddhas, beugte sich vor und fuhr mit dem Finger über die dunkle Pupille.
»Was machen Sie da?«, rief Nasser herunter.
»Da sind Löcher! An der Stelle, wo die Pupillen sein sollten, in die Augen gebohrt. Ich habe den Eindruck, sie reichen durch das ganze Gesicht hindurch.«
Gray blickte nach oben. Durch den Schacht strömte Sonnenschein herein, und jetzt, da der Altar weggesprengt war, traf der Lichtstrahl auf das Gesicht in der Kammer.
Aber drang er auch noch tiefer vor?
Er kletterte auf das Gesicht, legte sich flach auf den Bauch und spähte in die Pupille des steinernen Gottes hinein. Das andere Auge kniff er zusammen und legte die Hand um den Augapfel aus Sandstein. Es dauerte einen Moment, bis sein Blick sich scharf gestellt hatte.
Weit unten, erhellt vom durch die andere Pupille einfallenden Sonnenlicht, schimmerte Wasser. Ein See am Grund einer Höhle. Gray stellte sich die Felskuppel vor, gewölbt wie ein Schildkrötenpanzer.
»Was sehen Sie?«, rief Nasser.
Gray wälzte sich auf den Rücken und blickte in den Lichtschacht hoch.
»Ich habe die Höhle entdeckt! Unter dem steinernen Gesicht!«
Wie der Altarstein im oberen Heiligtum bewachte der Bodhisattva einen verborgenen Zugang.
Gray musste an Vigors Erklärung für die vielen Steingesichter denken. Man sagt, das seien Wächter, die verborgene Geheimnisse schützen. Doch wie er so dalag, kamen Gray auch die Worte eines anderen Mannes in den Sinn, Worte aus einer älteren, gefährlicheren Zeit: die allerletzte Zeile von Marcos Bericht.
Ein kalter Schauder
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