Der Judas-Code: Roman
wandte sie den Kopf und spähte durchs Gitter. »Ah, Mrs. Pierce.« Außer sich vor Wut schob sie den Pistolenlauf durch die Lamellen. »Zeit, Lebewohl zu sagen...«
Der Schuss versetzte Harriet einen Schock.
Annishen prallte gegen das Gitter und brach zusammen.
Die Kugel hatte sie mitten ins Auge getroffen.
Hinter Annishen kam Jack angehumpelt. Er warf die rauchende Pistole weg.
Sein letzter Schuss.
Harriet drückte das Gitter auf. Sie krabbelte über Annishens Beine hinweg, richtete sich auf und warf sich schluchzend in Jacks Arme. Ohne einander loszulassen, sanken sie aufs Dach nieder.
»Lass mich nie wieder allein, Jack.«
Er drückte sie an sich. »Versprochen«, sagte er.
Vom Hubschrauber seilten sich Männer in Militäruniformen
ab. Während das Dach abgesucht wurde, stellten sie sich schützend vor Harriet und Jack. Die Polizeisirenen hatten das Gebäude erreicht. Aus dem Lagerhaus drangen Schüsse und Schreie herauf.
Ein Mann in Einsatzmontur trat auf sie zu und ließ sich auf ein Knie nieder.
Zu ihrer Verwunderung blickte Harriet in ein bekanntes Gesicht. »Direktor Crowe?«
»Wann werden Sie endlich anfangen, mich Painter zu nennen, Mrs. Pierce?«, erwiderte er.
»Wie haben Sie uns gefunden?«
»In der Nähe der Metzgerei ist einem Mann etwas aufgefallen«, erklärte er mit einem erschöpften Lächeln. »Etwas, das ihm komisch vorkam.«
Harriet bedankte sich bei Jack mit einem Händedruck für seinen Auftritt auf der Straße.
Painter fuhr fort: »Seit dem Morgen haben wir die Straßen überwacht. Vor einer Dreiviertelstunde ist ein Polizeibeamter einem netten Herrn mit einem Einkaufswagen begegnet. Der hat Sie auf dem Foto erkannt und war vorher so umsichtig - oder vielleicht könnte man auch sagen paranoid -, sich das Fahrzeugkennzeichen, die Wagenfarbe und die Modellbezeichnung zu notieren. Kurz darauf hatten wir den GPS-Sender des Vans angepeilt. Tut mir leid, dass wir nicht eher kommen konnten.«
Jack wischte sich ein Auge trocken und wandte das Gesicht ab, damit man seine Tränen nicht sah. »Ihr Timing hätte besser nicht sein können. Ich schulde Ihnen eine große Flasche von dem Single-Malt-Whisky, den Sie so mögen.«
Harriet umarmte ihren Mann. Jack mochte Mühe haben, sich die Namen anderer Leute zu merken, aber ihre Lieblingsdrinks vergaß er nicht.
Painter richtete sich auf. »Darauf komme ich bestimmt zurück. Jetzt aber muss ich erst mal einen wichtigen Anruf machen.« Er wandte sich ab und murmelte etwas vor sich hin, das Harriet gleichwohl verstand.
»Das heißt, falls es nicht schon zu spät ist.«
11:22
Lisa stolperte hinter dem Monsignore die dunkle Treppe hinunter. Sie musste sich ducken und mit einer Hand an der feuchten Wand abstützen. Es roch dumpfig, nach modrigem Waldlaub. Unangenehm war der Geruch nicht, brannte aber ein wenig in der Nase.
Von unten drang schwacher Lichtschein herauf.
Dorthin wollten sie.
Die Treppe mündete in eine große Höhle. Das Geräusch ihrer Schritte hallte von den Wänden wider. Die Höhle war etwa fünf Stockwerke hoch, von der gewölbten Decke hingen stumpfe Stalaktiten herab. Der Raum hatte einen ovalen Grundriss und maß an der längsten Stelle etwa siebzig Meter. Die Sinterdecke bildete am Eingang einen natürlichen Torbogen. Ein ähnlicher Torbogen war an der anderen Seite auszumachen.
»Hat Ähnlichkeit mit einem Schildkrötenpanzer«, murmelte Vigor, dessen Stimme von den Wänden dumpf zurückgeworfen wurde. »Besonders die Torbogen an den beiden Seiten. Wie Vorder- und Hinterseite eines Panzers.«
Kowalski, der mit Gray zusammen Susan in die Höhle trug, brummte: »Und auf welcher Seite befinden wir uns? Im Hals oder im Arsch?« Als er sich aufrichtete, stieß er einen leisen Pfiff aus.
Lisa konnte seine Reaktion nachempfinden.
Vor ihnen breitete sich ein spiegelglatter, kreisförmiger See aus, eingefasst von einem Felssims. Von oben fielen durch die Augen des steinernen Buddhas zwei senkrechte Sonnenstrahlen auf die Mitte der schwarzen Wasseroberfläche.
Dort, wo das Sonnenlicht auftraf, leuchtete das Wasser milchig, als hätte sich das Licht verflüssigt und eine Lache gebildet.
Der milchige See schimmerte und wogte sachte.
Er wirkte lebendig.
Dieser Eindruck war gar nicht so falsch.
»Das Sonnenlicht versorgt die Cyanobakterien im Wasser mit Energie«, sagte Lisa.
Von den Augen der Gottheit tropfte etwas mit leisem Zischen in den See. Wo die Tropfen auftrafen, verdunkelte sich das Wasser.
»Säure«,
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