Der Judas-Code: Roman
meinte Gray womit er seinen Begleitern die von oben drohende Gefahr in Erinnerung rief. »Vom Sprengstoff. Das Zeug tropft durch die Augenöffnungen. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, das Gewölbe zu neutralisieren, aber zumindest der Steinblock hält einstweilen noch. Nassers Leute werden jedoch Vorschlag- und Presslufthämmer anschleppen und schon bald durchbrechen.«
»Was sollen wir tun?«, fragte Seichan.
»Wir machen, dass wir von hier verschwinden«, erwiderte Kowalski spöttisch.
Gray wandte sich an Lisa. »Kannst du vorlaufen und den anderen Torbogen untersuchen? Vielleicht gibt es dort ja einen Ausgang. Wie Vigor sehr richtig bemerkte, hat ein Schildkrötenpanzer eine Öffnung für den Kopf und eine für den Schwanz. Das ist unsere einzige Hoffnung.«
Lisa sträubte sich. »Gray, ich glaube, ich sollte besser bei Susan bleiben. Ich als Ärztin...«
Ein Stöhnen kam von der Plane. Susan hob kraftlos den Arm.
Lisa trat neben sie und achtete darauf, sie nicht zu berühren. »Sie ist unsere einzige Hoffnung auf ein Heilmittel.«
»Ich gehe vor«, sagte Seichan.
Als Lisa aufblickte, bemerkte sie in Grays Gesicht einen Anflug von Misstrauen.
Trotzdem nickte er. »Suchen Sie den Ausgang.«
Seichan ging wortlos voraus.
Die Gruppe folgte ihr am Seeufer entlang.
Gray schaute sich um. »Das scheint mir ein altes Wasserloch zu sein. Die gibt es auch in Florida und in Mexiko, wo man sie Cenotes nennt. Der Sandsteinblock hat das einstmals offene Wasserloch verschlossen.«
Lisa bückte sich nahe der Wand und hob etwas vom Boden auf. Es zerbröselte zwischen ihren Fingern. »Versteinerter Fledermauskot«, erklärte sie, womit sie Grays Einschätzung bestätigte. »Die Höhle muss früher von außen zugänglich gewesen sein.«
Lisa wischte sich die Finger ab und blickte Susan an. Sie sah sich in ihren Vermutungen bestätigt.
Vigor deutete mit weit ausholender Geste auf den See. »Die
alten Khmer sind wohl irgendwann auf das Wasserloch gestoßen, haben das Leuchten bemerkt und geglaubt, dies sei die Heimstatt eines Gottes. Anschließend haben sie versucht, es in den Tempel einzubinden.«
»Aber sie wussten nicht, was hier vorging«, fügte Lisa hinzu. »Sie drangen in einen verbotenen Bereich vor, störten ein empfindliches Ökosystem und setzten das Virus frei. Wenn die Menschen Druck ausüben, reagiert die Natur bisweilen mit Gegendruck.«
Sie gingen weiter am See entlang.
Vor ihnen ragte ein kleiner Felsvorsprung ins Wasser, in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Allein das sich kräuselnde milchige Wasser ließ die Landzunge hervortreten.
Und da war noch etwas.
»Sind das Knochen?«, fragte Kowalski, der auf die Wasserfläche hinausblickte.
Sie blieben stehen.
Lisa trat an den Rand des Sees. Das milde Leuchten drang tief ins kristallklare Wasser ein. Das felsige Ufer senkte sich bis zu einer steilen Kante in zehn Metern Entfernung sanft ab.
Im flachen Wasser waren Knochenansammlungen zu erkennen: zarte Vogelköpfe, kleine Brustkästen von Affen, ein Schädel mit spiralig gewundenen Hörnern und nicht weit vom Ufer auch ein Elefantenschädel, der wie ein weißer Findling im Wasser lag, der eine Stoßzahn bis auf einen Stummel abgebrochen. Doch das war längst noch nicht alles: Es gab auch gebrochene Oberschenkelknochen, lange Schienbeine, große Brustkästen und zahlreiche Schädel, verstreut wie Eicheln.
Menschenschädel.
Der See war ein riesiger Friedhof.
In ehrfürchtigem Schweigen gingen sie weiter.
Während sie am Ufer entlangschritten, wurde das Leuchten im See immer intensiver, das Brennen in der Nase stärker. Lisa dachte an die Weihnachtsinsel und den tödlichen Gezeitentümpel an deren Luvseite.
Biotoxine.
Kowalski schnitt eine Grimasse.
Auf Susan wirkten die Stoffe wie Riechsalz. Ihre Lider hoben sich flatternd. Sie leuchteten in der Dunkelheit, genau wie das Seewasser. Susan wirkte benommen, erkannte Lisa aber.
Sie versuchte sich aufzusetzen.
Gray und Kowalski brauchten ohnehin eine kleine Erholungspause. Sie senkten die provisorische Trage auf den Boden ab, lockerten die Schultern und massierten sich die Hände.
Lisa kniete neben Susan nieder, legte ihr die Plane um die Schultern und half ihr beim Aufsetzen.
Als Kowalski näher trat, erschreckte sich Susan.
»Alles in Ordnung«, versicherte ihr Lisa. »Das sind alles Freunde.«
Um Susan zu beruhigen, stellte sie die Anwesenden vor. Susans Panik ließ allmählich nach. Sie machte den Eindruck, als sammelte sie sich -
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