Der Judas-Code: Roman
gewonnen, so zerronnen
5. Juli, 01:55
Washington, D. C.
»Hier ist Endstation«, sagte Gray.
In den letzten sieben Minuten hatte er den Thunderbird über eine unkrautüberwucherte Straße des Glover-Archibold-Parks gesteuert. Ständig hatten Büsche an den Flanken des Cabrios gestreift. Der linke Vorderreifen war geplatzt, was das Lenken erschwerte und zur Folge hatte, dass sie nur noch langsam vorankamen.
Die meisten Leute kannten von Washington D. C. nur die historischen Gebäude, die breiten Paradestraßen und die Museen, doch es gab dort auch eine weitläufige Parklandschaft, die sich mitten durch die City zog und eine Fläche von über vierhundert Hektar bedeckte. Der Glover-Archibold-Park, der an den Potomac grenzte, lag am einen Ende.
Gray hatte den Wagen vom Fluss weggelenkt. Dort war das Gelände zu übersichtlich. Über einen Nebenweg, der am Campingplatz vorbeiführte, war er mit ausgeschalteten Scheinwerfern nach Norden gefahren und hatte schließlich einen Weg für Löschfahrzeuge entdeckt, der tiefer in den dichten Wald hineinführte. Sie durften nicht gesehen werden, doch der Thunderbird lag in den letzten Zügen.
Als ihm klar wurde, dass der Wagen es nicht mehr lange machen würde, fuhr er langsamer.
Sie befanden sich in einem Hohlweg. Zu beiden Seiten ragten steile, bewaldete Hänge auf. Eine alte Eisenbahnbrücke führte durch das schmale Tal. Gray lenkte den Thunderbird unter die Brücke aus verrosteten Eisenträgern und Holzbohlen. Neben einer der Stützmauern aus Beton hielt er an. Die Mauer war mit Graffiti beschmiert.
»Alle aussteigen. Von hier aus geht’s zu Fuß weiter.«
Hinter der Brücke war die von Sternenlicht und Mondsichel erhellte Holzmarkierung eines Wanderwegs zu erkennen. Der Weg hatte mehr Ähnlichkeit mit einem Tunnel, der waagerecht durch den dichten Laubwald schnitt.
Genau das Richtige, um sich zu verstecken.
Aus der anderen Richtung ertönte Sirenengeheul. Orangefarbener Feuerschein flackerte am Nachthimmel. Die Rakete hatte offenbar das Haus in Brand gesetzt.
Im Wald ringsum sah man die Hand vor Augen nicht.
Gray wusste, dass Nasser und seine Mörderbande irgendwo in der Nähe waren.
Entweder vor ihnen oder hinter ihnen, rasch näher kommend.
Er hatte Herzklopfen. Er hatte Angst - nicht um sein eigenes Leben, sondern um das seiner Eltern. Er musste sie aus der Gefahrenzone schaffen. Und das würde ihm nur dann gelingen, wenn Seichan wieder zusammengeflickt wurde.
Und zwar ohne dass sie aus der Deckung kamen.
Selbst wenn er sein Handy noch dabeigehabt hätte, wäre es ihm zu riskant erschienen, Kontakt mit Sigma oder Direktor Crowe aufzunehmen. Die Gespräche wurden abgehört, wie der Angriff auf die konspirative Wohnung bewiesen hatte. Folglich galt es, Funkstille zu bewahren. Irgendwo gab es eine undichte Stelle, und so lange, bis seine Eltern in Sicherheit waren, musste er den Kopf einziehen.
Das bedeutete, sie mussten sich für Seichan etwas einfallen lassen. Seine Mutter hatte ihm bereits einen Plan unterbreitet und daraufhin mit ihrem eigenen Handy zwei Anrufe getätigt. Anschließend hatte Gray den Akku herausgenommen, damit es nicht geortet wurde.
»Dank des Morphiums hat sie sich entspannt«, sagte Gray. »Von hier aus müssen wir sie tragen.«
»Ich nehme sie.« Kowalski scheuchte die anderen beiseite.
Grays Vater half seiner Frau beim Aussteigen. Dann beäugte er kopfschüttelnd und halblaut fluchend den Wagen.
Kowalski richtete sich mit Seichan in den Armen auf. Trotz der tiefen Dunkelheit unter der Eisenbahnbrücke bemerkte Gray den
schwarzen Fleck auf ihrem Bauchverband. Seichan regte sich. Benommen und erschreckt wand sie sich in Kowalskis Armen. Sie schrie auf und schlug ihm mit dem Handrücken auf die Wange.
»Hey!«, rief der Hüne und wich dem nächsten Schlag aus.
Seichan begann aufgeregt zu schreien, ein unverständliches Mischmasch aus Englisch und asiatischen Dialekten.
»Bringen Sie sie zum Schweigen«, sagte Grays Vater, während er in den finsteren Wald spähte.
Kowalski versuchte, ihr den Mund zuzuhalten, doch um ein Haar hätte sie ihm einen Finger abgebissen.
Seichan wurde immer aufgeregter.
Seine Mutter trat näher und wühlte in ihrer großen Handtasche.
Gray schüttelte den Kopf. »Warte.« Er fürchtete, das Morphium könnte aufgrund des Blutverlusts zum Atemstillstand führen. Eine zweite Dosis hätte sie womöglich umgebracht, und solange er nicht in Erfahrung gebracht hatte, was sie wusste, durfte sie nicht
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