Der Judas-Code: Roman
zu der genannten Zeit zurück. Die Lobby war leer bis auf eine Frau hinter der Rezeption, die Papierkram erledigte.
»Das ist Louise«, sagte der Empfangschef und tippte auf den Bildschirm. »Das alles hat sie ganz schön mitgenommen.«
Ohne auf seine Bemerkung einzugehen, beugte Gray sich dem Bildschirm entgegen.
Die Eingangstür schwang auf, und eine Person in einem weißen Kittel schritt zur Rezeption, legte einen Ausweis vor und ging zu den Aufzügen.
Louise wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
»Hat sie gesehen, wie der Bote wieder hinausgegangen ist?«
»Ich kann sie ja mal fragen...«
Painter hielt das Band in dem Moment an, als die Person den Kittel zurechtrückte.
Eine Frau.
Die Apotheke hatte einen Mann geschickt.
Das Bild war körnig, doch die asiatischen Gesichtszüge der Frau waren deutlich zu erkennen. Painter erkannte sie wieder. Er hatte sie bereits auf dem Überwachungsvideo von der konspirativen Wohnung gesehen.
Sie gehörte zu Nassers Team.
Painter drückte die Auswurftaste und nahm das Video heraus. Er drehte sich so abrupt um, dass der Hotelmanager erschreckt einen Schritt zurückwich. Painter hielt das Überwachungsvideo hoch.
»Niemand weiß davon«, sagte er mit fester Stimme und fixierte den Mann mit möglichst drohender Miene. In Anbetracht seiner Laune fiel ihm das nicht schwer. »Weder die Polizei noch das FBI.«
Der Mann nickte heftig.
Painter ging in die Lobby zurück. Er hatte eine Hand zur Faust geballt; am liebsten hätte er zugeschlagen.
Und zwar fest.
Jetzt war ihm klar, was hier geschehen war.
Nasser hatte Grays Eltern gekidnappt.
Direkt vor ihrer Nase.
Der Mistkerl war Sigma nur um Minuten zuvorgekommen. Und dafür konnte Painter keinen Maulwurf verantwortlich machen. Er kannte den Grund. Bürokratie. Seichans terroristischer Hintergrund hatte die ganze Mannschaft in Alarmbereitschaft versetzt, was zur Folge hatte, dass alle einander auf die Zehen traten. Zu viele Köche verdarben den Brei - zumal wenn keiner den Durchblick hatte.
Für Nasser galt das nicht.
Im Laufe des Tages war Painter immer wieder auf Hemmnisse gestoßen, die meistens mit unterschiedlichen Zuständigkeiten zu tun hatten. Da Sigma unter Regierungsüberwachung stand, witterten die anderen Geheimdienste Morgenluft. Wem es gelingen
würde, die Überläuferin, den großen Fisch in diesem ganzen Abschaum, zu fangen, der könnte sich das zuguteschreiben. Deshalb wurde kaum kooperiert, sondern nur so getan als ob.
Wenn Painter Nassers Pläne noch vereiteln wollte, musste er die Bürokratie umgehen. Zum Teufel mit der Rücksichtnahme.
Er drückte die Schnellwahltaste und stellte eine Verbindung zur Kommandozentrale her.
Painters Sekretär meldete sich.
»Brant, Sie müssen mich zu Direktor McKnight von der DARPA durchstellen. Über eine sichere Leitung.«
»Jawohl, Sir. Übrigens wollte ich Sie gerade anrufen. Die Funkzentrale hat soeben ein paar seltsame Meldungen aufgefangen. Die Weihnachtsinsel betreffend.«
Es dauerte einen Moment, bis Painter reagierte. »Was ist passiert?«, fragte er, als er wieder zu Atem gekommen war. Vor der Drehtür des Hotels blieb er stehen.
»Die Einzelheiten sind unklar. Aber es sieht so aus, als wäre das Kreuzfahrtschiff, das die evakuierte Inselbevölkerung aufgenommen hat, gekapert worden.«
»Was?«, keuchte Painter.
»Einer der WHO-Wissenschaftler konnte entkommen. Mit einem Kurzwellengerät hat er einen vorbeikommenden Tanker angefunkt.«
»Und Lisa und Monk...?«
»Von denen ist nichts bekannt, aber es kommen gerade neue Meldungen herein.«
»Ich bin gleich da.«
Mit klopfendem Herzen unterbrach er die Verbindung, steckte das Handy ein und trat durch die Drehtür nach draußen. Die frische Luft kühlte sein in Wallung begriffenes Blut wieder etwas ab.
Lisa...
Im Geiste ließ er ihr letztes Telefonat Revue passieren. Sie hatte müde, vielleicht auch ein wenig gereizt geklungen, vom Schlafmangel ausgelaugt. Hatte man sie zu den Anrufen gezwungen?
Das ergab keinen Sinn.
Wer besaß die Dreistigkeit, ein Kreuzfahrtschiff zu kapern? So
etwas ließ sich nicht geheim halten. Zumal im Zeitalter der Satellitenüberwachung.
Ein Schiff dieser Größe konnte man nirgendwo verstecken.
15:48
An Bord der Mistress of the Seas
Der Anblick verschlug Monk den Atem.
Allmächtiger...
Monk stand allein auf dem Steuerborddeck und wartete auf Jessie. Unmittelbar vor dem Schiff lag eine nebelverhüllte Insel. Steile Klippen ragten aus dem Meer. Die Insel
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