Der Judas-Code: Roman
die Ameise gezwungen, auf Grashalme zu klettern, sich dort zu verbeißen und darauf zu warten, von einer grasenden Kuh gefressen zu werden. Wird sie nicht gefressen, kehrt die Ameise bis zum nächsten Morgen in ihren Bau zurück - dann wiederholt sich der Vorgang. Der Egel steuert die Ameise buchstäblich wie ein Fahrzeug.«
»Und Sie glauben, das Virus geht ganz ähnlich vor?«
»Möglicherweise. Ich erwähne dies vor allem deshalb, weil ich Sie daran erinnern möchte, wie heimtückisch die Natur bisweilen sein kann, wenn sie in neues Territorium vordringt. Und das sterile und verbotene Gehirn ist sicherlich jungfräuliches Gebiet. Die Natur wird versuchen, es zu nutzen, so wie der Egel es mit der Ameise tut.«
»Brillant. Diesen Ansatz sollten wir auf jeden Fall weiterverfolgen. Aber das Ganze hat möglicherweise einen Haken.« Devesh wandte sich dem Rechner zu. In der Zwischenzeit hatte er ein Quicktime-Video geladen. »Ich habe erwähnt, dass das Virus in die Gehirnflüssigkeit aller Patienten vorgedrungen ist, welche den Bakterienbefall überlebt haben. Und so sieht das dann aus.«
Er klickte auf das Abspielsymbol.
Das Video war ohne Ton. Zwei weiß gekleidete Männer versuchten, einen um sich schlagenden Nackten mit rasiertem Schädel festzuschnallen, an dessen Kopf und Brust Elektroden befestigt waren. Er wehrte sich knurrend und schäumend. Obwohl er merklich geschwächt war, der Körper bedeckt mit Geschwüren und schwärzlichen Beulen, gelang es ihm, einen Arm zu befreien. Mit der klauenartig gekrümmten Hand kratzte er einen der Krankenpfleger. Dann bäumte sich der Patient auf und biss ihn in den Unterarm.
Das Video war zu Ende.
Devesh schaltete den Monitor aus. »Es liegen bereits Meldungen vor, wonach andere Patienten, die früh erkrankt sind, ein ganz ähnliches Verhalten zeigen.«
»Es könnte sich auch um eine andere Form von Katatonie handeln. Der katatonische Stupor ist nur eine Erscheinungsform davon.« Lisa nickte zu der Patientin im Bett hin. »Doch es gibt auch die genau entgegengesetzte Reaktion, sozusagen das Spiegelbild: die katatonische Erregung. Charakterisiert durch extreme Hyperaktivität, Grimassieren, tierartige Schreie und psychotische Gewalttätigkeit.«
Devesh erhob sich und trat wieder ans Krankenbett. »Die beiden Seiten einer Medaille«, murmelte er und musterte die reglos daliegende Frau.
»Der Mann im Video«, sagte Lisa. Ihr war der Hintergrund der Filmaufnahmen aufgefallen. Das Video war nicht an Bord des Schiffes aufgenommen worden. »Wer war das?«
Devesh deutete betrübt auf die Patientin. »Ihr Mann.«
Lisa straffte sich. Sie starrte die Kranke an. Ihr Mann ...
»Die beiden haben sich zum gleichen Zeitpunkt infiziert«, erklärte Devesh. »Sie wurden auf einer Segelyacht gefunden, die vor der Weihnachtsinsel auf ein Riff aufgelaufen war. Ihr Patient John Doe, der mit der Fleischessenkrankheit, ist offenbar an den Strand geschwommen. Wir haben die beiden von der Yacht geborgen. Sie waren stark geschwächt, dem Tode nahe.«
So also war die Gilde auf das Phänomen aufmerksam geworden.
Devesh nickte zu der Frau hin. »Das wirft natürlich die Frage auf, weshalb ihr Mann einen schizoiden Zusammenbruch erlitten hat, während die äußeren Wunden unserer Patientin in Heilung begriffen sind und sie in einem relativ stabilen katatonischen Zustand verharrt. Wir glauben, dass die Antwort auf diese Frage uns zu einem Heilmittel führen könnte.«
Lisa enthielt sich eines Kommentars. Sie war nicht dumm. Devesh konnte sagen, was er wollte - ihr war klar, dass sich die Gilde nicht von altruistischen Motiven leiten ließ. Sie suchte nicht deshalb nach einem Heilmittel, weil sie die Welt retten wollte. Sie hatte mit dem Virus etwas vor, doch ehe sie es nutzen konnte, musste sie
dessen Wirkungsweise vollständig verstanden und ein Gegen- oder Heilmittel entwickelt haben. Dagegen hatte Lisa keine Einwände. Ein Heilmittel musste entwickelt werden. Die Frage war nur: Wie sollte das ohne die Mithilfe der Gilde gelingen?
Devesh drehte sich auf dem Absatz um und wandte sich zur Tür. »Sie machen ausgezeichnete Fortschritte, Dr. Cummings. Ich kann Sie nur loben. Morgen ist jedoch wieder ein anderer Tag. Und wir brauchen weitere Ergebnisse.« Er musterte sie mit hochgezogenen Brauen. »Haben wir uns verstanden?«
Sie nickte.
»Ausgezeichnet.« Er zögerte. »Ach, übrigens, Sir Ryder Blunt, der geschätzte Eigner unseres Kreuzfahrtschiffs, lädt Sie zum Abendcocktail in seine
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