Der Judas-Code: Roman
überrascht.
Lisa sah ihn direkt an. »Es findet ein Heilungsprozess statt, und ich frage mich, weshalb die Patientin trotzdem in dem katatonischen Zustand verharrt. Ein solcher Stupor tritt nur bei schweren Kopftraumen, zerebrovaskulären und metabolischen Erkrankungen, bei Drogenvergiftung oder Enzephalitis auf.«
Das letzte Wort betonte sie.
Enzephalitis.
Gehirnentzündung.
»Mir ist aufgefallen, dass eine bestimmte Untersuchung in den Berichten nicht aufgeführt ist«, fuhr sie fort. »Und zwar eine Lumbalpunktion mit einer Entnahme von Hirnflüssigkeit. Die fehlt. Allerdings nehme ich an, dass sie durchgeführt wurde.«
Davesh nickte. »Bahut sahi. Ausgezeichnet. Ja, die Untersuchung wurde durchgeführt.«
»Und Sie haben den Judas-Stamm in der Gehirnflüssigkeit entdeckt.«
Ein weiteres Kopfnicken.
»Sie sagten, das Virus infiziere Bakterien und verwandele sie in gefährliche Krankheitserreger, dringe aber nicht direkt in menschliche Zellen ein. Das heißt aber nicht, dass das Virus nicht in der Gehirnflüssigkeit herumschwimmen könnte. Das haben Sie mit Inkubation gemeint. Das Virus befindet sich im Kopf.«
Er seufzte zustimmend. »Dort will es anscheinend hin.«
»Dann betrifft das nicht nur diese eine Patientin.«
»Nein, es betrifft alle Opfer... jedenfalls die, welche die erste Bakterienattacke überlebt haben.«
Er setzte sich an den Computer in der Zimmerecke und klickte sich durch verschiedene Fenster hindurch.
Lisa tigerte währenddessen am Fußende des Betts auf und ab. »Kein Organismus ist von Grund auf böse. Nicht einmal ein Virus. Der Bakterienbefall muss einen Sinn haben. In Anbetracht des breiten Spektrums befallener Bakterien kann das kein Zufall sein. Deshalb frage ich mich: Was gewinnt das Virus dabei?«
Devesh bedeutete ihr mit einem Kopfnicken, sie solle fortfahren. Ihre Schlussfolgerungen waren ihm anscheinend jedoch nicht neu. Er stellte sie immer noch auf die Probe.
Lisa blickte die Patientin an. »Was also gewinnt das Virus? Es
erlangt Zugang zu verbotenem Territorium: zum menschlichen Gehirn. Dr. Barnhardt hat darauf hingewiesen, dass neunzig Prozent der Körperzellen nichtmenschlichen Ursprungs sind. Die meisten davon sind Bakterienzellen. Unser Schädel ist einer der wenigen Bereiche, zu denen virale oder bakterielle Krankheitserreger keinen Zutritt haben. Unser Gehirn ist steril und vor Infektionen geschützt. Der Körper hat Blutgefäße und Gehirn durch eine nahezu undurchdringliche Barriere voneinander getrennt. Nämlich durch einen Filter, der eigentlich nur für Blutsauerstoff und Nährstoffe durchlässig ist.«
»Und wenn etwas in den Schädel hineinwill...?«, half Devesh ihr auf die Sprünge.
»Dazu müsste es erst einmal einen erfolgreichen Angriff auf die Blut-Hirn-Schranke unternehmen. Zum Beispiel, indem es die körpereigenen Bakterien gegen uns mobilisiert und die Abwehrkräfte so weit schwächt, dass das Virus die Schranke überwinden und in die Gehirnflüssigkeit vordringen kann. Das ist der biologische Nutzen, den das Virus daraus zieht, dass es die Bakterien in gefährliche Killer verwandelt.«
»Sie versetzen mich in Erstaunen«, sagte Devesh. »Ich habe doch gewusst, dass es sich auszahlen würde, Sie am Leben zu lassen.«
Für Lisas Geschmack war das Kompliment eher zweischneidig.
»Dann stellt sich die Frage nach dem Warum « , fuhr Devesh fort. »Warum will das Virus in unseren Schädel vordringen?«
»Leberegel«, sagte Lisa.
Die unlogische Bemerkung brachte ihr Deveshs ungeteilte Aufmerksamkeit ein. »Wie bitte?«
»Leberegel sind ein Beispiel für die Zielstrebigkeit der Natur. Die Lebenszyklen der meisten Egel involvieren drei Wirte. Der Leberegel des Menschen produziert Eier, die mit dem Stuhl den Körper verlassen, in Abwasserkanäle oder natürliche Gewässer gespült werden und sich dort den nächsten Wirt aussuchen: einen zufällig vorbeischwimmenden Fisch. Der Fisch wird schließlich gefangen und vom Menschen verzehrt. Der Wurm dringt in die Leber vor und wächst zu einem Egel heran, der sich glücklich und zufrieden einnistet.«
»Und worauf wollen Sie hinaus?«
»Der Judas-Stamm verhält sich vielleicht ganz ähnlich. Denken Sie an den Lanzett-Leberegel. Der hat ebenfalls drei Wirte: Rinder, Schlangen und Ameisen. Aber sein Verhalten im Ameisenstadium finde ich am interessantesten.«
»Und wie sieht das aus?«
»Der Egel beeinflusst die Nervenzentren der Ameise und verändert ihr Verhalten. Zumal bei Sonnenschein wird
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