Der jüdische Krieg.
Auseinandersetzung mit der Frau wird nicht angenehm sein.
Bescheiden bat Josef um eine schriftliche Anweisung, damit er die siebzig Menschen losbekomme, deren Freiheit der Prinz ihm zugesagt hat. Unwirsch schrieb Titus die Anweisung. Während des Schreibens, über die Schulter, warf er dem Josef hin: »Warum haben Sie mich eigentlich niemals um Erlaubnis gebeten, Ihre Dorion hierherkommen zu lassen?« Josef schwieg eine kleine Weile, erstaunt. »Ich fürchtete«, sagte er dann, »Dorion werde mich hindern, Ihren Feldzug, Prinz Titus, so mitzuerleben, daß ich ihn dann schreiben kann.« Schlecht gelaunt sagte Titus: »Ihr seid scheußlich konsequent, ihr Juden.«
Den Josef traf dieses Wort. Es war seine Absicht gewesen, mehr als die siebzig zu verlangen; vor dem Gesicht des Prinzen hatte er es aufgegeben. Jetzt, plötzlich, wußte er: es kam alles darauf an, daß Titus ihm mehr Menschenleben zugestehe. Behutsam, sehr unterwürfig, bat er: »Schreiben Sie nicht: siebzig, Cäsar Titus, schreiben Sie: hundert.« – »Ich denke nicht daran«, sagte der Prinz. Er sah ihn bösartig an, seine Stimme klang grobschlächtig wie die seines Vaters. »Heute würde ich dir auch keine siebzig mehr konzedieren«, sagte er.
Niemals sonst hätte sich Josef erdreistet, weiter zu bitten. Aber es trieb ihn. Er mußte beharren. Er war für immer verworfen, wenn er jetzt nicht beharrte. »Geben Sie mir siebenundsiebzig, Cäsar Titus«, bat er. »Schweig«, sagte Titus. »Ich hätte Lust, dir auch die siebzig wieder zu nehmen.«
Josef nahm das Täfelchen an sich, bedankte sich, ließ sich Begleitmannschaften mitgeben, ging zurück in die Stadt.
Das lebenbringende Täfelchen im Gürtel, strich er durch die Straßen. Sie waren voll von Mord. Wen soll er retten? Seinen Vater, seinen Bruder lebend anzutreffen, hatte er wenig Hoffnung. Er hatte Freunde in Jerusalem, auch Frauen, die er gerne sah, aber er wußte, es war nicht um dieser willen, daß damals an der Leichenschlucht Jahve das Herz des Titus erweicht hatte. Und nicht um dieser willen hatte er jetzt den Prinzen mit so dreister Beharrlichkeit bedrängt. Gut und verdienstvoll ist es, Menschen vom Tode zu retten, aber was sind seine armseligen siebzig vor den Hunderttausenden, die hier sterben? Und während er es noch nicht wahrhaben will, während er es mit aller Kraft ins Nichtwissen zurückdrängt, steigt aus seinem Innern ein bestimmtes Antlitz herauf.
Dieses ist es, dieses sucht er.
Er sucht. Er muß finden. Er hat keine Zeit, er darf nicht ablassen, es sind Hunderttausende, und er muß den Einen finden. Es geht nicht um siebzig Irgendwelche, es geht um den Bestimmten. Aber rings um ihn ist der Mord, und er hat das lebenbringende Täfelchen im Gürtel und ein schlagendes Herz in der Brust. Er sollte vorbeigehen, er hat seine Aufgabe, er hat dieses bestimmte Gesicht zu finden. Aber wenn du siehst, wie Menschen umgebracht werden, und du hast das Mittel, zu sagen: lebe, dann ist es schwer, vorbeizugehen, vernünftig, auf das bestimmte Gesicht wartend, schweigend. Und Josef ging nicht vorbei, er sagte: lebe, er bezeichnete diesen, weil seine Angst ihn anrührte, jenen, weil er so jung war, diesen wieder, weil sein Gesicht ihm gefiel. Und er sagte: lebe, sagte es ein fünftes Mal, ein zehntes, ein zwanzigstes Mal. Dann wieder nahm er alle Vernunft zusammen, er hatte seine Aufgabe, er bezwang sich, ging vorbei an Menschen, die starben, weil er vorbeiging. Aber er ertrug es nicht lange, schon zum nächsten wieder sagte er: lebe, und wieder zum nächsten, und zu mehreren. Erst als er den fünfzigsten den knurrenden, unwillig dem Befehl gehorchenden Soldaten entrissen hatte, packte ihn wieder seine Aufgabe, und er hielt ein. Er darf sich so billiges Mitleid nicht gönnen; sonst steht er mit leeren Händen, wenn er den Bestimmten findet.
Er flüchtet vor sich selber in die Synagoge der Alexandrinischen Pilger. Er wird jetzt die siebzig Rollen der Heiligen Schrift holen, die Titus ihm zugestanden hat. Die Plünderer waren bereits in der Synagoge gewesen. Sie hatten die heiligen Bücher aus der Lade gerissen, sie ihrer kostbaren, bestickten Mäntel beraubt. Da lagen sie, die edeln Rollen, bedeckt mit den köstlichen Zeichen, zerfetzt, blutbeschmiert, zertrampelt von den Stiefeln der Soldaten. Josef bückte sich schwerfällig, hob behutsam eines der geschändeten Pergamente aus Dreck und Blut. Man hatte etwas herausgeschnitten, an zwei Stellen. Josef folgte
Weitere Kostenlose Bücher