Der jüdische Krieg.
zwischen die satten und dennoch gefräßigen Größeren springen können und sich ein Stück erraffen. Wenn nichts anderes, so legitimierte ihn schon seine ungeheure Begier. Jetzt aber, während dieser Debatte über das Aktionsprogramm, entrann ihm jede Hoffnung wie der Wein aus durchlöchertem Schlauch. Sein Gehirn war leer. Als er kam, war er sicher gewesen, er werde etwas Bedeutsames zu sagen haben, was diese Männer bewegen mußte, ihm eine Führerstelle zu übertragen. Jetzt war er gewiß, auch dieser Tag, auch diese große Gelegenheit wird vorbeigehen, und er wird weiter unten bleiben müssen wie bisher, ein betriebsamer Streber.
Man ernannte zur Durchführung des bewaffneten Friedens für die sieben Bezirke des Landes je zwei Volkskommissare mit diktatorischen Vollmachten. Josef saß schlaff auf seinem Platz in den hinteren Reihen. Was ging ihn das an? Ihn vorzuschlagen, darauf wird niemand kommen.
Jerusalem Stadt und Land war vergeben, Idumäa wurde vergeben, Tamna, Gophna wurden vergeben. Jetzt ging es um den nördlichen Grenzbezirk, das reiche Bauernland Galiläa. Hier hatten die »Rächer Israels« ihre meisten Anhänger. Hier war die Freiheitsbewegung entstanden, hier waren die stärksten Wehrverbände. Man schlug vor, den alten Doktor Jannai in diese Provinz zu schicken, einen bedachtsamen, sachlichen Herrn, den besten Finanzmann des Großen Rats. Den Josef riß es aus seiner Leere. Dieses herrliche Land, mit seinen Reichtümern, mit seinen langsamen, nachdenklichen Menschen. Diese wunderbare, schwierige, verwickelte Provinz. Die wollte man dem alten Jannai geben? Ein ausgezeichneter Theoretiker, gewiß, ein verdienter Nationalökonom: aber doch kein Mann für Galiläa. Josef wollte »nein« schreien, er stand halb auf, er beugte sich vor, seine Nachbarn sahen ihn an, aber er sagte nichts, es war ja doch umsonst, er seufzte nur, mit gepreßtem Atem, einer, der viel zu sagen hat und es hinunterschluckt.
Die ihm nahe saßen, lächelten über den unbeherrschten jungen Herrn. Noch einer hatte ihn gesehen, seine Empörung und seinen Verzicht. Er lächelte nicht. Er saß sehr viel weiter vorn als Josef. Es war ein Zufall, daß er die heftige Geste des jungen Menschen beobachtet hatte; denn er hielt gewohnheitsmäßig die meiste Zeit die gelben, zerfältelten Lider über den Augen. Es war ein kleiner Herr, uralt, welk, der Oberrichter des Landes, der Großdoktor Jochanan Ben Sakkai, Rektor der Tempeluniversität. Als man nach einmütiger Wahl des Kommissars Jannai unschlüssig auf einen zweiten Vorschlag wartete, erhob er sich. Auffallend hell und lebendig standen die Augen in seinem kleinen, tausendfach zerknitterten Gesicht. Er sagte: »Ich schlage als zweiten Kommissar für Galiläa vor den Doktor Josef Ben Matthias.«
Josef, wie jetzt alle auf ihn schauten, saß sonderbar reglos. Er hatte an diesem Tag Erwartung und Verzicht zehnmal vorgeschmeckt, hatte in seiner Phantasie Erfüllung und Enttäuschung ganz ausgekostet: jetzt traf es ihn nicht mehr, daß man seinen Namen nannte. Er saß leer, als sei die Rede von einem Dritten.
Den andern kam der Vorschlag überraschend. Warum wohl schlug der milde und trockne Großdoktor Jochanan Ben Sakkai, der angesehene Gesetzgeber, diesen jungen Menschen vor? Der hatte sich bisher in keinem verantwortungsreichen Amt bewährt, hatte vielmehr, seitdem er durch seinen belanglosen Erfolg in der Sache der drei Unschuldigen bei den Massen Sympathien genoß, großmäulig mit seinen Neigungen für die Blaue Halle kokettiert. Hielt es der Großdoktor vielleicht für ratsam, dem alten Jannai einen jungen Herrn mitzugeben, der auch bei den »Rächern Israels« Namen hatte? Ja, so mußte es zusammenhängen. Der Vorschlag war gut. Das Feuer der Makkabi-Leute pflegt, sitzen sie erst in Amt und Würden, rasch abzuflauen. Doktor Josef wird vermutlich in Galiläa zahmer sein als in Rom und Jerusalem, und die wassernüchterne Klugheit des alten Finanztheoretikers Jannai konnte eine kleine Beimischung von dem jungen Wein dieses heftigen Josef ganz gut vertragen.
Josef war mittlerweile aus seiner Starrheit aufgewacht. Hatte nicht eben jemand seinen Namen genannt? Jemand? Jochanan Ben Sakkai, der Großdoktor. Er hatte manchmal, als Kind, mit Scheu die leichte, segnende Hand des milden Mannes auf seinem Kopf gespürt. In Rom hatte er erfahren, daß der Alte selbst dort im Ruf eines der weisesten Menschen der Welt stand. Ganz ohne eigenes Zutun hatte Jochanan das
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