Der Jünger
Notwendigkeit seiner Taxifahrten immer wieder vor Augen. Durch sie verdiente er ausreichend Geld, um seine Jünger zu ernähren und seine Mission erfüllen zu können. Trotzdem war er maßlos enttäuscht von der Undankbarkeit seiner Jünger. Sie waren apathisch und verweigerten mittlerweile sogar das Essen.
Und dann war da Judas. Er war die größte Enttäuschung von allen. Hätte Jay gewusst, wie bösartig er war, dann hätte er ihn wieder zurückgebracht. Seine Drohungen und Flüche waren wirklich beängstigend. Nur wenn er etwas zu essen bekam, war er ruhig.
Es war bereits nach drei Uhr, und er hatte noch kein Mittag gegessen.
Er fuhr zwanzig Minuten weiter und ließ mehrere Fahrgäste, die ihn zu sich heranwinken wollten, am Straßenrand stehen. Jay wollte unbedingt zu diesem bestimmten Café fahren, wo das Hühnchen so zubereitet wurde, wie er es in seiner Heimat Dallas immer geliebt hatte. Es war merkwürdig, wie sentimental er geworden war. Essen hatte ihn noch nie besonders interessiert. Es war lediglich ein Mittel zum Zweck, um den Körper weiter in Gang zu halten. Jetzt ertappte er sich dabei, wie er an die Kekse dachte, die seine Mutter gebacken hatte, und an den Duft von gebratenem Truthahn zum Erntedankfest. Zu seinem Entsetzen musste er auf einmal gegen die Tränen ankämpfen.
Er würde sehr bald sterben, und dort, wo er hinging, war Essen vollkommen unwichtig. Vielleicht war das der Grund, warum er versuchte, so viel wie möglich von seinen Lieblingsgerichten zu bekommen, bevor es zu spät war.
Deshalb ging er zu Joe's Diner.
Es war ein unauffälliger Name für ein unauffälliges Lokal. Es war das Essen, das die Gäste anlockte und dafür sorgte, dass sie in regelmäßigen Abständen wiederkamen, um die Grillspezialitäten aus dem Süden zu genießen.
Jay entdeckte das Schild schon aus einiger Entfernung. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen bei dem Gedanken an das Gericht, das er sich gleich bestellen würde. Er hatte den Blinker gesetzt und fuhr in die mittlere Spur, um links abzubiegen, als ihn der Schmerz wieder überfiel. Es war, als träfe ihn jemand mit dem Baseballschläger am Hinterkopf. Er hielt sich mit beiden Händen den Kopf fest.
Dann trat er auf die Bremse und schaffte es irgendwie, den Wagen zum Stehen zu bringen, bevor sein Bein taub wurde. Plötzlich und unerwartet hatte er die Kontrolle über seinen rechten Arm verloren, und er fragte sich, ob das ein Schlaganfall war.
Gott … Nein … Bitte nicht so.
Reifen quietschten. Hupen ertönten. Bremsen kreischten. Es gab einen Auffahrunfall, aber außer zerbeulten Stoßstangen war kein Schaden entstanden. Einige Fahrer lehnten sich aus dem Fenster, beschimpften sich in einer fremden Sprache, fuhren aber weiter, bevor jemand die Polizei rufen konnte.
Ein Fahrradkurier hielt neben Jays Fenster. “He, Mister, ist alles in Ordnung mit Ihnen?”, erkundigte er sich.
Das Licht blendete seine Augen so stark, dass Jay sicher war, er würde sterben. Erst als der Schmerz nachließ, wurde ihm klar, dass es nicht das helle Licht des Himmels gewesen war, das er gesehen hatte. Er starrte in die Sonne.
Seine Lippen fühlten sich noch immer taub an, als er den Wagen wieder in Bewegung setzte und sich in den Verkehr einfädelte. Das Essen war vergessen. Er musste zum Lagerhaus zurück, um sich hinzulegen. Das war alles, was er wollte. Nur einen Platz, an dem er sich ausstrecken konnte.
Er war bereits eine halbe Stunde unterwegs, als ihm klar wurde, dass er einen halben Block vom Heim der Barmherzigen Schwestern entfernt war, nicht vom Lagerhaus. Er bog in eine Parklücke, die für Lieferungen reserviert war, stellte den Motor aus und ließ seinen Kopf auf das Lenkrad sinken. Er dachte nicht darüber nach, warum er hier war. Er wusste nur, dass er sich hier in Sicherheit befand.
Mutter Mary Theresa fühlte sich nicht wohl. Sie hatte sich schon den ganzen Morgen nicht gut gefühlt, aber heute war ein besonderer Tag für Joseph Callum, einen ihrer hingebungsvollsten Helfer. Joseph war zweiunddreißig gewesen, als er mit seiner alternden Mutter hier im Heim ankam. Zu dieser Zeit waren sie schon drei Jahre obdachlos gewesen. Seine Mutter, völlig erschöpft von dem Leben auf der Straße und der jahrelangen Pflege ihres Sohnes, der mit dem Down-Syndrom geboren worden war, starb in der fünften Nacht im Obdachlosenasyl. Nach ihrer Beerdigung blieb Joseph weiter dort, einerseits, weil Mutter Mary T. wusste, dass er sonst nichts hatte, wohin er
Weitere Kostenlose Bücher