Der Jünger
Gütern durchsah, wusste sie, dass sie ihre Fragen gut vorbereiten musste, um Antworten zu erhalten.
Mutter Mary T. betrachtete mit kritischem Blick einen Lampenständer, den sie in der Hand hielt, als January auf sie zukam.
“Hallo, Mutter Mary T. Sieht aus, als hätten Sie gefunden, was Sie suchten.”
Die Nonne runzelte die Stirn und drehte sich um, als sie angesprochen wurde, doch als sie January erkannte, glätteten sich ihre Gesichtszüge. Sie winkte January zu sich nach hinten an die Ladefläche.
“Ja, und ich könnte ein bisschen Hilfe gebrauchen. Kommen Sie zu mir rauf. Wir können uns beim Arbeiten unterhalten.”
“Warum habe ich schon geahnt, dass Sie das sagen würden?”, fragte January, während sie auf den Laster kletterte.
Mutter Mary T. schnaufte. “Ich nehme mal an, weil Sie das schon vorher gehört haben.” Sie reichte January einen Lampenschirm. “Sehen Sie mal, ob das zu der Leuchte da hinten passt. Weshalb sind Sie hier?”
January trug den Schirm zur anderen Seite der Ladefläche und schraubte die Halterung auseinander, während die kleine Nonne einen riesigen Stapel Bettwäsche aufhob und einem Helfer in die Arme warf, der draußen auf der Straße stand. “Wissen Sie, was ich satt habe?”, fragte sie January.
“Was?” January schraubte den Lampenschirm konzentriert auf den Ständer.
“Leute, die dreckige Sachen für die Armen spenden … Als wenn die nicht gut genug wären, um das Zeug vorher noch zu waschen, bevor man es weggibt. Sehen Sie sich bloß diese Laken an. Schmutzig. Voller Flecken. Ein paar sind zerrissen. Ich würde mich schämen, wenn ich so was täte.” Sie seufzte. “Wie auch immer, es ist meine Aufgabe im Leben, dass Gottes Kinder keine Schande erleben. Deshalb werden meine Schwestern und ich den Dreck anderer Leute beseitigen, bevor wir diese so großzügigen Geschenke weitergeben.”
January grinste. “Wissen Sie, Mutter Mary T., Sie gehören zu den wenigen Menschen, die trotz ihres ehrlichen Gesichts so richtig sarkastisch werden können.”
Die kleine Nonne seufzte. “Das war nicht sehr fromm von mir, was?”
January wurde ernst. “Im Gegenteil. Sie sind der frommste Mensch, den ich kenne.”
Mutter Mary T. reagierte nervös auf diese Lobpreisung. Sie nahm die Lampe von January entgegen und zeigte auf zwei kaputte Lehnstühle. “Setzen Sie sich, Mädchen. Ich denke, ich werde eine Pause einlegen, und ich möchte nicht zu Ihnen aufsehen, wenn wir reden.”
January setzte sich, und Mutter Mary T. nahm neben ihr Platz. “Also, was haben Sie auf dem Herzen? Ich kenne Sie gut genug, um zu wissen, dass das hier kein einfacher Freundschaftsbesuch ist.”
January lehnte sich nach vorn und stützte die Ellenbogen auf die Knie. Unbewusst senkte sie die Stimme, da sie nicht wollte, dass jemand mithörte, was sie sagte. “Haben Sie mal von einem Straßenprediger gehört, der sich 'der Sünder' nennt?”
Mutter Mary T. runzelte die Stirn. “Der Sünder. Hm, ja, das kommt mir bekannt vor, aber ich bin ihm nie begegnet. Warum fragen Sie?”
January zögerte, bevor sie weiterredete.
“Während der letzten Monate habe ich von ein paar Männern gehört – Männern aus Obdachlosenheimen oder von der Straße –, die verschwunden sind. Ist Ihnen davon was zu Ohren gekommen?”
Die kleine Nonne bekreuzigte sich und senkte nun ihrerseits die Stimme.
“Ich höre alles Mögliche”, sagte sie. “Das meiste davon ist Teufelswerk.” Dann fügte sie hinzu: “Aber um Ihre Frage zu beantworten, ja. Ein paar von den Stammkunden hier im Heim reden von Leuten, die vermisst werden. Warum?”
“Ich habe eine vage Theorie, nach der ein Zusammenhang damit bestehen könnte.”
“Ein Zusammenhang womit, Mädchen?”
“Zwischen dem Priester und den Vermissten.”
Mutter Mary T. riss die Arme hoch. “Alle Heiligen im Himmel, January. Sie können doch unmöglich irgendetwas von dem ernst nehmen? Die Wohnungslosen gehören bereits zu den Vermissten, wenn sie von irgendwo hierher kommen. Oft verschwinden sie wieder genauso anonym, wie sie aufgetaucht sind. Abgesehen davon erfreut sich keiner von ihnen bester Gesundheit. Es ist kaum zu ertragen, wenn ich daran denke, wie viele davon allein in der Kloake oder verlassenen Gebäuden sterben und nie gefunden werden.”
“Das weiß ich, aber …”
“Aber gar nichts. Wenn Sie eine Story suchen, dann berichten Sie darüber, dass wir kein Geld mehr haben. Wir brauchen Spenden für den kommenden Winter. Mäntel,
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