Der Jünger
ihr genauso. Sie hatte diese Ängste wochenlang allein mit sich herumgetragen. Es war ein gutes Gefühl, sie jetzt mit Ben teilen zu können.
“Danke, dass du mir vertraust und an mich glaubst”, sagte sie leise.
“Komm jetzt ins Bett. Ich will dich ganz fest halten. Wenigstens weiß ich im Moment, wo du dich rumtreibst.”
January kuschelte sich in seine Arme, während er sie mit sich aufs Bett zog.
“Die Frage ist nicht, wo ich mich herumtreibe”, sagte sie. “Sondern, wo er sich gerade aufhält. Ben, wir müssen ihn so schnell wie möglich finden.”
Ben hielt sie fest. “Wir tun alles, was wir können, Süße. Wir tun weiß Gott alles dafür.”
Jay schlief, während seine Jünger heulten, flehten und ihn auf jede erdenkliche Weise verfluchten. Ihr Zustand verschlechterte sich. Durch den Dreck, in dem sie lagen, begannen sich die wunden Stellen zu infizieren. Auf Matthews Kopf hatte das Blut an den Stellen, wo er sich die Haarbüschel ausgerissen hatte, dicke Krusten gebildet. Eine Stelle war sogar schon von Maden befallen. Die Männer hatten versucht zu fliehen. Sie hatten um ihre Freiheit gebettelt. Doch das war vorbei. Jetzt bettelten sie nur noch um ein schnelles und sanftes Ende.
Doch es fehlte noch immer einer in der Schar der Jünger, das war auch allen durchaus bewusst.
Der Jünger, der für den Weg ihres Entführers am wichtigsten war, musste noch gefunden werden.
Judas.
Der Verräter.
Judith Morris war dreiunddreißig Jahre alt, einen Meter siebenundachtzig groß und einhundertdreißig Kilo schwer. Auf dem Kopf trug sie einen Bürstenhaarschnitt, und der Ohrring in ihrem linken Ohr war aus Stacheldraht. Um den Hals schlängelte sich tätowierter Stacheldraht, und weitere passende Tattoos befanden sich auf ihren Unterarmen. Sie konnte fast einhundertachtzig Kilo stemmen, und ihr fehlte ein oberer Eckzahn.
Sie verdiente sich etwas Geld mit dem Verkauf von Lottoscheinen in einer kleinen Gasse zwischen einem italienischen Restaurant und einem griechischen Feinkostladen. Zusätzlich arbeitete sie ab und zu als Rausschmeißerin im Club Lesbo. Tatsächlich wusste kaum jemand, dass Judith als Frau zur Welt gekommen war. Es wäre auch keiner auf die Idee gekommen, sie für eine Frau zu halten: Ihre Nase war einmal gebrochen gewesen, und auf ihrem Kinn prangte eine Narbe.
Wie eine Frau sah sie bestimmt nicht aus.
Und sie wurde Jude genannt.
Jay fühlte sich wie ein Betrüger. Obwohl er glaubte, dass seine Verwandlung eine direkte Botschaft Gottes war, fühlte er sich nicht wohl. Doch seine Würfel waren gefallen, und jetzt musste er mit seiner Entscheidung leben. Trotzdem fiel es ihm immer schwerer, den Alltag zu ertragen. Zusätzlich zu dem Schmerz, der in den vergangenen Monaten sein ständiger Begleiter geworden war begann bereits der Verfall seines Körpers.
Gestern Morgen musste er nur kurze Zeit nach seinem Frühstück bei einer Tankstelle Halt machen, um sich zu übergeben. Seine Organe versagten langsam ihren Dienst. Die Erkenntnis, dass sein Körper ihm nicht mehr gehorchte, war niederschmetternd. Und jetzt, wo sein Haar kurzgeschnitten war, fand er wunde Stellen und Knoten in seinem Nacken. Nachdem er panisch den ganzen Körper untersucht hatte, war ihm noch eine Verdickung unter dem Arm aufgefallen.
Die Lymphknoten. Die Schnellstraße für den Krebs auf dem Weg durch seinen Körper.
Offensichtlich blieb ihm noch weniger Zeit als erwartet. Sein wichtigstes Ziel war es jetzt, Judas zu finden. Aber das Telefonbuch hatte ihm keinen Judas offenbart.
Jude kam verkatert und schlecht gelaunt aus ihrem Einzimmer-Apartment. Dieses Miststück von Hure war über Nacht abgehauen, nachdem sie sich beschwert hatte, ständig herumgestoßen zu werden. Jude war sauer, dass sie nicht diejenige gewesen war, die Schluss gemacht hatte, aber eigentlich konnte sie froh sein, dass diese Verliererin verschwunden war.
Ihr Blick war angriffslustig, die Hände fast ununterbrochen zu Fäusten geballt. Heute war ein Tag wie jeder andere. Sie machte sich wie jeden Morgen auf den Weg zum Kiosk an der Ecke, um zu frühstücken, bevor sie ihre Runde drehte. Es wurde Zeit, diese Verlierer, die ihr noch Geld schuldeten, zur Rede zu stellen. Sie würde nicht davor zurückschrecken, dem einen oder anderen einen Arm zu brechen, um es auch zu bekommen.
Sie betrat den Laden mit hoch erhobenem Kopf, schob einen geschniegelten Anzugträger zur Seite und stellte sich an seinen Platz in der Schlange. Eine alte Frau
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