Der Jünger
schimpfte irgendetwas auf Russisch. Aber Jude lachte ihr nur ins Gesicht und brüllte ihre Bestellung.
“Warte, bis du dran bist, Jude!”, rief der Angestellte und winkte sie zurück.
“Leck mich”, sagte Jude. Sie schnappte sich zwei Bagels aus einem Korb auf der Fleischtheke, dann warf sie eine Fünf-Dollar-Note auf den Fußboden. “Der Rest ist für dich.” Auf dem Weg nach draußen schnappte sie sich eine Flasche Orangensaft aus der Kühlbox.
“He, Jude! Komm zurück, verdammt noch mal! Ich kriege noch einen Dollar!”, rief der Verkäufer ihr nach.
“Die Bagels sind kalt, dafür ist der Saft warm, und du kriegst einen Scheiß!”, schrie sie zurück und lief weiter.
Jay hatte schon etliche Minuten in der gleichen Schlange angestanden. Als er aber hörte, wie der Angestellte den Mann beim Namen rief, war sein Hunger vergessen. Er trat aus der Schlange heraus und folgte dem großen Mann nach draußen. Er wusste nicht, wie er diesen riesigen Typen in sein Taxi bekommen sollte, doch er hatte gebetet, um seinen Judas zu bekommen, und Gott hatte ihn erhört.
Jude hatte schon die Hälfte der Straße hinter sich und aß im Laufen. Sie schritt genauso energisch aus, wie sie von ihrem Bagel abbiss. In Gedanken plante sie ihre Tagestour.
Als Jay merkte, wie schnell sich dieser Typ bewegte, sprang er in sein Taxi und folgte ihm im Auto, immer auf Abstand bedacht. Mehrere Male musste er am Straßenrand warten, weil Jude verschiedene Läden betrat. Jay wunderte sich, dass Jude in der letzten Stunde in mindestens fünf Geschäften gewesen war, ohne irgendetwas gekauft zu haben.
Es war schon fast Mittag, als Jude sich an einer Straßenecke nach einem Taxi umschaute. Jay musste sich zurückhalten, um nicht laut zu rufen. Doch als er in den Rückspiegel blickte und ein anderes Taxi entdeckte, das auf die Kreuzung zufuhr, verfiel Jay in Panik. Er biss die Zähne zusammen, scherte so rasant aus der Parklücke, als gelte es, ein Formel-1-Rennen zu gewinnen, und schnappte dem anderen Taxi so diesen Fahrgast vor der Nase weg.
Der Taxifahrer hupte wild und schrie Jay irgendetwas Unflätiges zu, als er vorbeifuhr.
Jude öffnete die hintere Tür des Wagens und stieg ein.
“Wohin, Mister?”, fragte Jay.
Jude runzelte die Stirn, dann schnaubte sie leise.
“Wissen Sie, wo das Little China Tea House ist?”, erkundigte sie sich.
Jay hatte nie davon gehört, aber das machte ja wohl nichts. “Sicher”, erwiderte er knapp.
“Bringen Sie mich in zehn Minuten dorthin, dann zahle ich auch entsprechend”, grunzte Jude.
Die Stimme des Mannes war ungewöhnlich hoch, aber Jay dachte sich nichts dabei. Es war egal, wie Jude redete. Was zählte, war allein der Name.
Er trat aufs Gas und fuhr vom Straßenrand weg. Jude war ohnmächtig, noch bevor sie den zweiten Straßenblock erreicht hatten.
Jay blickte in seinen Rückspiegel zum hinteren Sitz, um sich zu vergewissern, dass der große Typ wirklich nicht mehr wach war, dann machte er sich auf den Weg zum Lagerhaus. In dem alten Hochofen gab es keine freie Stelle mehr für ihn, aber das war egal. Für Judas hatte er sich nämlich etwas ganz Besonderes ausgedacht.
Als Jude zu sich kam und eine Ratte über ihren Bauch kriechen sah, stieß sie einen spitzen Schrei aus. Das war das erste Mal seit Jahren, dass sie wie eine Frau kreischte, und selbst in ihren Ohren klang es fremd. Als das Tier von ihrer Brust heruntersprang, zitterte sie am ganzen Körper und versuchte, sich aufrecht hinzusetzen. Sie konnte nicht glauben, was sie da sah. Wo kamen die Ketten her, mit denen ihre Hände gefesselt waren? Das alles konnte nur ein Albtraum sein, aus dem sie hoffentlich bald wieder aufwachen würde! Doch als sie mit voller Wucht an den Fesseln riss und ihr der Schmerz den Arm hochschoss, wurde ihr endgültig klar, dass dieser Albtraum sehr real war.
Mit einiger Anstrengung brachte sie es schließlich fertig, sich aufrecht hinzusetzen. Nichts von dem, was sie hier sah, kam ihr bekannt vor. Sie konnte sich auch nicht daran erinnern, wie sie hierher gekommen war. Das Letzte, was sie getan hatte, war … In ihrem Kopf herrschte Leere. Sie konnte sich an nichts mehr erinnern, nachdem sie aus Lees Chinesischem Waschsalon gekommen war.
Denk nach. Denk nach. Aus der Wäscherei. Dann die Straße runter.
Das Taxi! An der Ecke hatte ein Taxi gestanden.
“Ich habe ein Taxi genommen”, murmelte Jude und erschrak, als die Wände das Echo ihrer Stimme zurückwarfen. “Wo zum Teufel bin
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