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Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
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nachzudenken, dazu hatte ich keine Zeit; die Geschichte mit Krafft ging mir im Kopf herum. Nicht, daß dieser Gedanke mich so ganz besonders gequält hätte, aber ich fühlte mich doch tief erschüttert, und sogar so sehr, daß die allgemein menschliche Empfindung eines gewissen Vergnügens bei fremdem Unglück, wenn zum Beispiel sich jemand ein Bein bricht, seine Ehre verliert, eines geliebten Wesens beraubt wird und so weiter, daß selbst diese allgemein menschliche Empfindung einer gemeinen Befriedigung völlig einem andern, sehr intensiven Gefühl Platz machte: dem Kummer, dem Mitleid mit Krafft; das heißt, ob es wirklich Mitleid war, weiß ich nicht, aber jedenfalls war es ein sehr starkes, gutes Gefühl. Und damit war ich zufrieden. Es ist erstaunlich, wie viele nebensächliche Gedanken einem durch den Kopf gehen können, gerade wenn man durch eine gewaltige Nachricht ganz erschüttert ist, die, wie man meinen möchte, in Wirklichkeit die anderen Gefühle erdrücken und alle fremden Gedanken hinausjagen müßte, besonders die unwichtigen; aber gerade die unwichtigen Gedanken drängen sich einem auf. Ich erinnere mich noch, daß ein recht unangenehmes nervöses Zittern allmählich meinen ganzen Körper ergriff, das mehrere Minuten dauerte und sogar die ganze Zeit über anhielt, während ich zu Hause war und ein Gespräch mit Wersilow hatte.
    Dieses Gespräch fand unter seltsamen und ungewöhnlichen Umständen statt. Ich habe schon erwähnt, daß wir in einem besonderen Nebengebäude auf dem Hof wohnten; diese Wohnung trug die Nummer dreizehn. Noch ehe ich in das Hoftor trat, hörte ich eine weibliche Stimme, welche jemanden laut in ungeduldigem, gereiztem Ton fragte: »Wo ist die Wohnung Nummer dreizehn?« Die Fragende war eine Dame, die ganz in der Nähe des Tores die Tür eines kleinen Ladengeschäftes geöffnet hatte; aber man schien ihr dort keine Auskunft gegeben oder sie sogar hinausgewiesen zu haben, und sie stieg eilig und aufgebracht die Stufen vor der Ladentür wieder hinunter:
    »Wo ist denn hier der Hausknecht?« rief sie und stampftedabei mit dem Fuß. Ich hatte diese Stimme schon längst erkannt.
    »Ich gehe nach der Wohnung Nummer dreizehn«, sagte ich, an sie herantretend. »Zu wem wollen Sie?«
    »Ich suche schon eine ganze Stunde lang den Hausknecht; alle Leute habe ich gefragt, alle Treppen bin ich hinaufgelaufen.«
    »Die Wohnung ist auf dem Hof. Erkennen Sie mich nicht wieder?«
    Aber sie hatte mich bereits erkannt.
    »Sie wollen zu Wersilow; Sie haben etwas mit ihm abzumachen, und ich ebenfalls«, fuhr ich fort. »Ich bin gekommen, um von ihm für immer Abschied zu nehmen. Kommen Sie mit!«
    »Sie sind sein Sohn?«
    »Das tut nichts zur Sache. Übrigens, nehmen wir ruhig an, daß ich sein Sohn bin, obgleich ich Dolgorukij heiße. Ich bin ein illegitimes Kind. Dieser Herr hat eine Unmenge illegitimer Kinder. Wenn Gewissen und Ehre es verlangen, verläßt sogar der leibliche Sohn das Haus. Das steht schon in der Bibel. Außerdem hat er eine Erbschaft gemacht, und ich will an ihr keinen Anteil haben, sondern gehe weg, um von meiner Hände Arbeit zu leben. Wenn es notwendig ist, bringt ein hochherziger Mensch sogar sein Leben zum Opfer; Krafft hat sich erschossen, Krafft, um einer Idee willen, stellen Sie sich das vor, ein junger Mensch, der zu den schönsten Hoffnungen berechtigte ... Hierher, hierher! Wir wohnen in einem besonderen Nebengebäude. Das steht schon in der Bibel, daß die Kinder von den Vätern fortgehen und sich ein eigenes Nest bauen ... Wenn eine Idee einen treibt ... wenn man eine Idee hat! Die Idee ist die Hauptsache; in der Idee liegt alles beschlossen ...«
    In solchen Reden erging ich mich die ganze Zeit über, während wir nach unserer Wohnung gingen. Der Leser bemerkt wahrscheinlich, daß ich mich nicht besonders schone und mich, wo es nötig ist, auch ernstlich tadle: ich will lernen, die Wahrheit zu sagen. Wersilow war zu Hause. Ich ging hinein, ohne den Mantel abzulegen, und sie machte es ebenso. Gekleidet war sie furchtbar dürftig: über einem dunklen Kleidchen hing so ein Stück Zeug, das einen Manteloder eine Mantille vorstellen sollte; auf dem Kopf hatte sie ein altes, schäbiges Matrosenhütchen, das sehr wenig zu ihrer Verschönerung beitrug. Als wir in das Wohnzimmer eintraten, saß meine Mutter mit einer Arbeit an ihrem gewohnten Platz, und meine Schwester kam aus ihrem Zimmer, um zu sehen, wer gekommen sei, und blieb in der Tür stehen. Wersilow, der nach

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