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Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
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Dunkeln und könne kaum noch die Buchstaben erkennen; eine Kerze wolle er aber nicht anzünden, aus Furcht, es könne nach seinem Tod ein Brand entstehen. »Sie aber anzünden, um sie vor dem Schuß ebenso wie mein Leben auszulöschen, das will ich nicht«, hatte er merkwürdigerweise in einer der letzten Zeilen hinzugefügt. Dieses vor dem Tode abgefaßte Tagebuch hatte er schon vor zwei Tagen begonnen, unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Petersburg, noch vor dem Besuch bei Dergatschew; nachdem ich von ihm weggegangen war, hatte er alle Viertelstunden Eintragungen gemacht; die allerletzten drei oder vier Notizen hatte er in Zwischenräumen von fünf Minuten niedergeschrieben. Ich sprach meine Verwunderung darüber aus, daß Wassin, der doch dieses Tagebuch so lange vor Augen gehabt hatte (man hatte es ihm zu lesen gegeben), keine Abschrift davon gemacht hatte, um so mehr, als es nur einen Bogen füllte und die Bemerkungen nur ganz kurz waren. »Sie hätten doch wenigstens die letzte Seite abschreiben sollen!« sagte ich. Wassin erwiderte lächelnd, er werde den Inhalt auch so nicht vergessen; außerdem seien die Bemerkungen ganz ungeordnetund beträfen alles Mögliche, was ihm in den Sinn gekommen sei. Ich wollte ihm auseinandersetzen, daß das in einem solchen Fall ganz besonders wertvoll sei, ließ diese Absicht dann aber fallen und drang in ihn, mir einiges aus dem Gedächtnis mitzuteilen, und so zitierte er mir denn auch einige Zeilen, zum Beispiel eine, die eine Stunde vor dem Schuß geschrieben war und besagte, daß ihn friere; er habe, um sich zu erwärmen, schon daran gedacht, ein Glas Branntwein zu trinken, aber der Gedanke, daß infolgedessen vielleicht der Bluterguß größer werden könne, habe ihn davon abgehalten. »In dieser Art war fast alles«, schloß Wassin.
    »Und das nennen Sie Torheiten!« rief ich.
    »Wann hätte ich diesen Ausdruck gebraucht? Ich habe nur keine Abschrift davon anfertigen mögen. Aber wenn es auch keine Torheiten sind, so ist der Inhalt des Tagebuches doch wirklich recht gewöhnlich oder, richtiger gesagt, sehr natürlich, das heißt eben so, wie er in einem solchen Falle sein muß ...«
    »Aber es sind doch seine letzten Gedanken, seine letzten Gedanken!«
    »Die letzten Gedanken sind manchmal äußerst unbedeutend. Ein ebensolcher Selbstmörder beklagt sich in einem ebensolchen Tagebuch geradezu darüber, daß in einer so wichtigen Stunde ihm auch nicht ein einziger ›höherer Gedanke‹ aufsteige, sondern nur lauter solche kleinlichen und unbedeutenden.«
    »Und daß ihn friert, ist das auch ein unbedeutender Gedanke?«
    »Meinen Sie speziell das vom Frieren oder das vom Bluterguß? Es ist aber eine bekannte Tatsache, daß sehr viele von denen, die imstande sind, an ihren bevorstehenden freiwilligen oder unfreiwilligen Tod zu denken, dazu neigen, sich um die schöne äußere Gestalt, in der ihr Leichnam zurückbleiben wird, Sorgen zu machen. In diesem Sinne fürchtete auch Krafft einen allzugroßen Bluterguß.«
    »Ich weiß nicht, ob das eine bekannte Tatsache ist ... und ob sich das so verhält«, murmelte ich, »aber ich wundere mich, daß Sie das alles für so natürlich halten, und dabei ist es doch erst ganz kurze Zeit her, daß Krafft mit unszusammensaß und redete und sich aufregte. Tut er Ihnen denn gar nicht leid?«
    »O gewiß, er tut mir leid, aber das ist etwas ganz anderes. Jedenfalls aber hat Krafft selbst seinen Tod als logische Schlußfolgerung dargestellt. Es stellt sich heraus, daß alles, was gestern bei Dergatschew über ihn gesagt wurde, seine Richtigkeit hatte: er hat ein ganzes Heft voll gelehrter Schlußfolgerungen hinterlassen, aus denen auf Grund der Phrenologie, der Kraniologie und sogar der Mathematik hervorgehen soll, daß die Russen eine Rasse zweiten Ranges seien und es sich somit für einen Russen überhaupt nicht lohne zu leben. Das charakteristischste ist dabei wohl dies: man kann zwar mit Leichtigkeit jede beliebige logische Schlußfolgerung ziehen, aber daß sich jemand auf Grund einer Schlußfolgerung ohne weiteres erschießt, das kommt natürlich nicht immer vor.«
    »Wenigstens muß man doch seinem Charakter Anerkennung zuteil werden lassen.«
    »Vielleicht auch nicht diesem allein«, bemerkte Wassin ausweichend, aber es war klar, daß er dabei an Dummheit oder an Schwäche der Denkkraft dachte. Alles das brachte mich in Erregung.
    »Sie haben selbst gestern von Gefühlen gesprochen, Wassin.«
    »Ich negiere sie auch jetzt nicht;

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