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Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
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hinzu.
    »Was für ein sonderbares Schriftstück!« rief ich erstaunt.
    »Wieso sonderbar?« fragte Wassin.
    »Kann man denn in einem solchen Augenblick in humoristischen Ausdrücken schreiben?«
    Wassin sah mich fragend an.
    »Und es ist auch ein sonderbarer Humor«, fuhr ich fort, »ein Gymnasiastenjargon, wie er unter Schulkameraden gebräuchlich ist... Na, wer kann in einem solchen Augenblick und in einem solchen Schreiben an die unglückliche Mutter – und sie hat ihre Mutter doch offenbar geliebt – schreiben:›Ich habe mein Lebensdebüt abgebrochen‹?«
    »Warum soll man das nicht schreiben können?« fragte Wassin, der noch immer nicht verstand.
    »Humor steckt da überhaupt nicht darin«, bemerkte Wersilow endlich. »Der Ausdruck ist natürlich nicht passend, hat durchaus nicht den richtigen Ton und könnte tatsächlich aus dem Gymnasiastenjargon oder aus irgendeinem Feuilleton herstammen, aber die Verstorbene hat den falschen Ton sicher nicht bemerkt, und glaube mir, sie hat den Ausdruck in diesem schrecklichen Schriftstück ganz schlicht und ernsthaft verwendet.«
    »Das ist nicht möglich; sie hat das Gymnasium absolviert und beim Abgang eine silberne Medaille bekommen.«
    »Die silberne Medaille hat damit nichts zu tun. Die erhalten heutzutage viele beim Abgang.«
    »Das zielt wieder auf die Jugend«, bemerkte Wassin lächelnd.
    »Durchaus nicht«, erwiderte Wersilow, indem er sich von seinem Platz erhob und seinen Hut nahm. »Wenn die heutige Generation keine besonders große literarische Bildung besitzt, so besitzt sie dafür ohne Zweifel... andere Vorzüge«, fügte er mit ungewöhnlichem Ernst hinzu. »Außerdem sind ›viele‹ nicht ›alle‹; Ihnen zum Beispiel mache ich nicht den Vorwurf mangelhafter literarischer Bildung, und Sie sind doch auch noch ein junger Mensch.«
    »Und Wassin hat ja auch an dem ›Debüt‹ nichts Schlechtes gefunden«, konnte ich mich nicht enthalten zu bemerken.
    Wersilow reichte Wassin schweigend die Hand; dieser griff ebenfalls nach seiner Mütze, um mit ihm zusammenfortzugehen, und rief mir zu: »Auf Wiedersehen!« Wersilow ging hinaus, ohne sich um mich zu kümmern. Auch ich hatte keine Zeit zu verlieren: ich mußte schleunigst laufen und mir ein Zimmer mieten, das war jetzt notwendiger als je zuvor! Mama war nicht mehr bei der Wirtin, sie war weggegangen und hatte die Nachbarin mitgenommen. Ich trat in besonders munterer Stimmung auf die Straße hinaus... Ein neues, großes Gefühl war in meiner Seele erwacht. Und dazu kam noch, daß mir alles glückte, als wäre es vorausberechnet: es gelang mir außerordentlich schnell, eine mir völlig zusagende Wohnung zu finden; von dieser Wohnung will ich später noch reden, jetzt werde ich zuerst die Hauptsache zu Ende erzählen.
    Es war eben erst etwas nach eins, als ich wieder zu Wassin zurückkehrte, um meinen Koffer zu holen; es traf sich gut, daß er wieder zu Hause war. Als er mich erblickte, rief er mit froher, offener Miene:
    »Wie freue ich mich, daß Sie mich noch getroffen haben; ich wollte eben wieder weggehen! Ich kann Ihnen ein Ereignis mitteilen, das, wie ich meine, Sie sehr interessieren wird.«
    »Davon bin ich im voraus überzeugt!« rief ich.
    »Ei, wie munter und frisch Sie aussehen! Sagen Sie mal, haben Sie nichts von einem gewissen Brief gewußt, den Krafft in Verwahrung hatte und der gestern in Wersilows Hände gelangt ist, ein Brief, der sich auf die von ihm gewonnene Erbschaft bezieht? In diesem Brief erklärt der Erblasser seinen Willen in einem der gestrigen Gerichtsentscheidung entgegengesetzten Sinn. Der Brief ist schon vor langer Zeit geschrieben. Kurz, ich weiß nichts Genaueres darüber, aber wissen Sie nichts davon?«
    »Selbstverständlich weiß ich. Gerade zu diesem Zweck hat mich Krafft vorgestern in seine Wohnung mitgenommen... von jenen Herren weg, um mir diesen Brief einzuhändigen, und ich habe ihn gestern Wersilow übergeben.«
    »Ja? So hatte ich es mir auch gedacht. Denken Sie sich nur, die Sache, von der Wersilow vorhin hier sagte, daß sie ihn gestern abend verhindert habe, hierherzukommenund dieses junge Mädchen umzustimmen, diese Sache war gerade eine Folge dieses Briefes. Wersilow hat sich gleich gestern abend geradeswegs zu dem Rechtsanwalt des Fürsten Sokolskij begeben, ihm diesen Brief überreicht und auf die ganze Erbschaft, die er gewonnen hatte, verzichtet. In diesem Augenblick ist dieser Verzicht schon in die gesetzliche Form gebracht. Wersilow schenkt nicht,

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