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Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
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mache keinen Versuch, diesen Widerspruch zu erklären. Lisa ließ sich beimir seltener sehen als Mama, obwohl auch sie täglich zu mir kam, oft sogar zweimal. Aus Bruchstücken ihrer Gespräche und aus ihrem ganzen Benehmen schloß ich, daß Lisa sehr viel zu sorgen hatte und sogar oft in ihren eigenen Angelegenheiten von Hause abwesend war; schon dieser bloße Gedanke, daß sie »eigene Angelegenheiten« haben konnte, enthielt für mich etwas Kränkendes; indes waren das alles nur krankhafte, rein physiologische Empfindungen, die nicht wert sind, hier geschildert zu werden. Tatjana Pawlowna kam gleichfalls fast täglich zu mir, und obgleich sie ganz und gar nicht zärtlich zu mir war, schimpfte sie doch wenigstens nicht wie früher, was mich furchtbar ärgerte, so daß ich ihr geradezu sagte: »Wenn Sie nicht schimpfen, Tatjana Pawlowna, sind Sie gräßlich langweilig.« – »Na, dann werde ich nicht wieder zu dir kommen«, erwiderte sie kurz und ging hinaus. Ich aber war froh, daß ich wenigstens eine weggejagt hatte.
    Am reizbarsten zeigte ich mich Mama gegenüber, und sie war es, die ich am meisten peinigte. Es hatte sich bei mir ein gewaltiger Appetit eingestellt, und ich murrte sehr, daß ich das Essen immer zu spät bekäme (in Wirklichkeit bekam ich es nie zu spät). Mama wußte nicht, wie sie es mir recht machen sollte. Einmal brachte sie mir die Suppe und begann wie gewöhnlich mich selbst zu füttern; ich aber murrte fortwährend beim Essen. Und auf einmal ärgerte ich mich darüber, daß ich immer murrte: »Sie ist vielleicht die einzige, die ich liebhabe«, dachte ich, »und gerade sie peinige ich immer.« Aber mein Ärger legte sich nicht, und plötzlich brach ich vor Ärger in Tränen aus; sie aber, die Arme, dachte, ich weinte vor Rührung, beugte sich zu mir nieder und küßte mich. Ich tat mir Gewalt an, so daß ich es einigermaßen ertrug, aber in diesem einen Augenblick haßte ich sie tatsächlich. Und doch liebte ich Mama immer, und auch damals liebte ich sie und haßte sie ganz und gar nicht, aber es war so, wie es immer zu sein pflegt: wen man am meisten liebt, den peinigt man am meisten.
    Hassen tat ich in jenen ersten Tagen nur den Doktor. Dieser Arzt war ein noch junger Mensch, der mit hochmütiger Miene in scharfem, ja unhöflichem Ton sprach. Er tat so, als hätten sie, die Doktoren, alle in der Wissenschafterst tags zuvor plötzlich etwas Besonderes entdeckt, während doch tags zuvor überhaupt nichts Besonderes passiert war; aber so benimmt sich die »Mittelmäßigkeit« und die »Straße« immer. Ich ertrug es lange, aber schließlich brach ich auf einmal los und sagte ihm in Gegenwart aller der Meinigen, seine Besuche hätten gar keinen Zweck, ich würde auch ganz ohne ihn gesund werden; er suche sich zwar den Anschein eines Realisten zu geben, stecke aber in Wirklichkeit ganz voll vorgefaßter Meinungen und begreife nicht, daß die Medizin noch nie jemanden gesund gemacht habe, und endlich sei er aller Wahrscheinlichkeit nach ein ganz ungebildeter Mensch, wie alle diese Techniker und Spezialisten, die bei uns jetzt in der letzten Zeit die Nase so hoch trügen. Der Doktor ärgerte sich furchtbar (schon allein dadurch zeigte er, wes Geistes Kind er war), setzte aber trotzdem seine Besuche fort. Ich erklärte schließlich Wersilow, wenn der Doktor seine Besuche nicht einstelle, so würde ich ihm etwas sagen, was noch zehnmal unangenehmer sein würde. Wersilow bemerkte nur, es dürfte kaum möglich sein, etwas zu sagen, was noch einmal so unangenehm wäre wie das, was ich schon gesagt hätte, geschweige denn etwas zehnmal so Unangenehmes. Ich freute mich über diese seine Bemerkung.
    Nein, was ist das nur für ein Mensch! Ich rede von Wersilow. Er, er allein war an allem schuld, und sollte man es glauben: er war der einzige, auf den ich nicht böse war. Es war nicht nur sein Benehmen mir gegenüber, was mich bestach. Ich glaube, wir hatten damals beide die Empfindung, daß wir uns gegenseitig mancherlei Erklärungen schuldig seien ... und daß es gerade darum das beste sei, von solchen Erklärungen ein für allemal abzusehen. Es ist außerordentlich angenehm, wenn man in solchen Lebenslagen auf einen klugen Menschen stößt! Ich habe schon im zweiten Teil meiner Erzählung berichtet, daß er mir sehr kurz und deutlich von dem Brief des nunmehr verhafteten Fürsten an mich und von der Ehrenerklärung, die mir von Serschtschikow ausgestellt worden war, und so weiter und so weiter

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