Der Jüngling
gehört, sowohl bei Tage als auch bei Nacht, aber immer nur für einen ganz kurzen Augenblick, und dann war wieder für mehrere Stunden vollständige Stille eingetreten, so daß ich nicht weiter darauf geachtet hatte. Am vorhergehenden Abend war mir schon beinahe der Gedanke gekommen, daß Wersilow dort sei, um so mehr, als er bald darauf zu mir hereinkam; indes wußte ich doch zuverlässig aus ihren Gesprächen selbst, daß Wersilow für die Dauer meiner Krankheit in eine andere Wohnung übergesiedelt war und dort auch nächtigte. Über Mama und Lisa aber war mir schon längst bekannt, daß sie beide (ich glaubte, damit ich mehr Ruhe hatte) nach oben in meinen früheren »Sarg« gezogen waren, und ich hatte sogar einmal im stillen gedacht: »Wie mögen sie nur da beide zusammen Platz finden?« Und nun stellte es sich auf einmal heraus, daß in ihrem früheren Zimmer ein Mann wohnte und daß dieser Mann keineswegs Wersilow war. Mit einer Leichtigkeit, die ich mir gar nicht zugetraut hätte (denn ich hatte bisher immer gemeint, ich sei völlig kraftlos), streckte ich die Beine aus dem Bett hinaus, schob die Füße in die Pantoffeln, zog den grauen, neben mir liegenden Schlafrock aus Lammfell an (Wersilow hatte zu meinen Gunsten auf ihn verzichtet) und begab mich durch unser Wohnzimmer hindurch nach Mamas früherem Schlafzimmer. Das, was ich dort erblickte, machte mich völlig fassungslos; ich hatte absolut nichts Derartiges erwartet und blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen.
Dort saß ein alter Mann mit ganz grauem Kopfhaar und einem langen, schneeweißen Bart, und es war augenscheinlich, daß er schon lange dort saß. Er saß nicht auf dem Bett, sondern auf Mamas Fußbank und lehnte sich nur mit dem Rücken an das Bett. Übrigens hielt er sich dermaßen gerade, daß er überhaupt keine Stütze nötig zu haben schien, obgleich er offenbar krank war. Er trug über dem Hemd einen kurzen, mit Tuch überzogenen Schafpelz, über die Knie hatte er sich Mamas Reisedecke gelegt, seine Füße steckten in Pantoffeln. Er hatte, wie man erkennen konnte, eine hohe Statur und war breitschultrig; seine ganze Erscheinung machte trotz seiner Krankheit, seiner Blässe undMagerkeit doch einen munteren, kräftigen Eindruck; sein Gesicht war länglich, das Haar sehr dicht, aber nicht sehr lang; er schien über siebzig Jahre alt zu sein. Neben ihm lagen auf einem Tischchen, mit der Hand zu erreichen, drei oder vier Bücher und eine silberne Brille. Obgleich ich vorher nicht im entferntesten daran gedacht hatte, ihn hier zu treffen, so erriet ich doch augenblicklich, wer es war; nur vermochte ich immer noch nicht zu begreifen, wie er hier alle diese Tage fast neben meinem Krankenzimmer hatte so leise sitzen können, daß ich bisher nichts von ihm gehört hatte.
Er rührte sich nicht, als er mich erblickte, sondern sah mich unverwandt und schweigend an, ebenso wie ich ihn, mit dem Unterschied, daß ich ihn mit maßlosem Erstaunen ansah und er mich ohne das geringste Erstaunen. Im Gegenteil, als er in diesen fünf oder zehn Sekunden des Schweigens mein Gesicht auf das genaueste gemustert hatte, lächelte er auf einmal und lachte sogar still und unhörbar, und obgleich das Lachen schnell vorüberging, blieb doch eine helle, heitere Spur davon auf seinem Gesicht und namentlich in seinen Augen zurück; diese waren sehr blau, leuchtend und groß, hatten aber infolge des hohen Alters herabgesunkene, geschwollene Lider und waren von unzähligen kleinen Runzeln umgeben. Dieses sein Lachen machte auf mich einen besonders starken Eindruck.
Nach meiner Ansicht wird, wenn ein Mensch lacht, sein Anblick in den meisten Fällen widerwärtig. Meistens äußert sich im Lachen der Menschen etwas Gemeines, etwas, was den Lachenden gewissermaßen erniedrigt, obgleich der Lachende selbst fast nie etwas von dem Eindruck weiß, den er hervorruft. Ebensowenig, wie er oder überhaupt ein Mensch weiß, was er für ein Gesicht hat, wenn er schläft. Bei manchen sieht das Gesicht auch im Schlaf klug aus; bei anderen dagegen, selbst bei klugen Menschen, wird das Gesicht im Schlaf sehr dumm und daher lächerlich. Ich weiß nicht, woher das kommt: ich will nur sagen, daß der Lachende, ebenso wie der Schlafende, meistens von seinem Gesicht nichts weiß. Weitaus die Mehrzahl der Menschen versteht überhaupt nicht zu lachen. Zu verstehen ist übrigensdabei nichts: das ist ein Talent, das man sich nicht selbst verschaffen kann. Verschaffen kann man es sich
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