Der Jüngling
Oh, ich versichere Ihnen, wir haben den aufrichtigen Wunsch, ehrenhaft zu sein, aber wir schieben es immer auf.
›Und so vergehn die schönsten, besten Jahre!‹ Aber was ihn betrifft, so habe ich eine furchtbare Angst, daß er sich noch einmal aufhängt. Er wird hingehen, ohne einem Menschen vorher ein Wort zu sagen. So ein Mensch ist er. Heutzutage hängen sich alle auf; wer weiß, vielleicht gibt es viele solche Menschen wie uns. Ich zum Beispiel kann nicht leben ohne Geld zu unnötigen Ausgaben. Es ist mir viel mehr daran gelegen, Geld zu unnötigen Ausgaben zu haben als zu notwendigen. Hören Sie mal, lieben Sie die Musik? Ich liebe sie schrecklich. Wenn ich zu Ihnen komme, werde ich Ihnen etwas vorspielen. Ich spiele sehr gut Klavier und habe lange Musik studiert. Ich habe ernsthaft studiert. Wissen Sie, wenn ich eine Oper komponierte, würde ich den Stoff aus dem ›Faust‹ entnehmen. Ich liebe dieses Thema sehr. Ich komponiere immer die Szene im Dom, das heißt, ich lege mir alles so im Kopf zurecht. Ein gotischer Dom, Inneres; Chöre, Hymnen; Gretchen tritt ein; und wissen Sie, mittelalterliche Chöre, damit man sich gleich in das fünfzehnte Jahrhundert versetzt fühlt. Gretchen in tiefem Gram; zuerst ein Rezitativ, leise, aber schrecklich, qualvoll, und die Chöre brausen düster, streng, teilnahmslos:
›Dies irae, dies illa!‹
Und auf einmal die Stimme des Teufels, die Arie des Teufels. Er ist unsichtbar, nur ein Gesang; der neben den Hymnen, zugleich mit den Hymnen erklingt und fast mit ihnen zusammenfällt, aber dabei doch etwas ganz anderes ist – das muß man auf irgendeine Weise so zustande bringen. Die Arie ist lang, endlos; es ist Tenor, unbedingt Tenor. Sie beginnt leise und sanft: ›Denkst du noch daran, Gretchen, wie du, noch unschuldig, noch ein Kind, mit deiner Mutter in diesen Dom kamst und aus dem alten Buch Gebete lalltest?‹ Aber die Arie schwillt immer stärker, heftiger an; die Töne werden höher: man hört in ihnen Tränen, unablässigen, hoffnungslosen Gram und endlich die Verzweiflung: ›Keine Vergebung, Gretchen, für dich ist hier keine Vergebung!‹ Gretchen will beten; aber nur Schreie entringensich ihrer Brust – wissen Sie, wenn von den Tränen ein Krampf die Brust zusammenzieht –, aber die Arie des Satans verstummt immer noch nicht, immer tiefer bohrt sie sich in das Herz hinein wie ein spitzes Messer, immer höher werden die Töne – und auf einmal bricht es beinahe wie ein Schrei heraus: ›Alles ist zu Ende; du bist verdammt!‹ Gretchen fällt auf die Knie, drückt die Hände vor der Brust zusammen – und nun folgt ihr Gebet, etwas ganz Kurzes, halb Rezitativ, aber naiv, etwas ganz Kunstloses, im höchsten Grade Mittelalterliches, vier Verse, im ganzen, nur vier Verse – bei Stradella kommen ein paar solche Töne vor –, und bei dem letzten Ton fällt sie in Ohnmacht! Verwirrung. Sie wird aufgehoben und hinausgetragen – und nun ertönt ein gewaltiger Chor. – Es ist wie ein Donnergeroll von Stimmen, ein begeisterter, siegreicher, überwältigender Chor, so daß alles in seinen Grundfesten bebt, und alles geht dann in den entzückten, jauchzenden, allgemeinen Ruf Hosianna über! Es ist wie ein Schrei des ganzen Weltalls; sie aber wird immer noch getragen, und in diesem Augenblick fällt der Vorhang! Nein, wissen Sie, wenn ich könnte, würde ich so etwas komponieren! Aber ich kann jetzt nicht mehr, sondern überlasse mich immer nur leeren Träumereien. Immer nur Träumereien und Träumereien; mein ganzes Leben hat sich in eine einzige Träumerei verwandelt, auch in der Nacht hänge ich solchen Träumereien nach. Ach, Dolgorukij, haben Sie den ›Raritätenladen‹ von Dickens gelesen?«
»Ja; wieso?«
»Erinnern Sie sich ... Warten Sie, ich will noch ein Glas trinken – erinnern Sie sich da an eine Stelle am Schluß, wo die beiden, dieser irrsinnige Alte und dieses reizende, dreizehnjährige Mädchen, seine Enkelin, nach ihrer phantastischen Irrfahrt endlich irgendwo am Rande von England ein Asyl gefunden haben, in der Nähe eines mittelalterlichen, gotischen Doms; und das Mädchen hat da ein Amt bekommen: sie muß den Besuchern den Dom zeigen ... Und da geht nun eines Abends die Sonne unter, und dieses Kind steht, ganz von den letzten Strahlen übergossen, auf der Domtreppe und blickt still und nachdenklich sinnend in den Sonnenuntergang, und seine Kinderseele ist erstaunt,als stünde sie vor einem Rätsel; denn es ist ja auch das eine wie
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