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Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
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gerade heute: du bist zu spät gekommen, mein Lieber. Heute findet das Finale des letzten Aktes statt, und der Vorhang geht herunter. Dieser letzte Akt hat lange gedauert. Angefangen hat er schon vor sehr langer Zeit, damals, als ich zum letztenmal ins Ausland flüchtete. Ich sagte mich damals von allem los, und du mußt wissen, mein Lieber, daß ich damals die Beziehungen zu deiner Mutter löste und ihr das selbst eröffnete; Das mußt du wissen. Ich erklärte ihr damals, daß ich für immer wegreiste und sie mich nie mehr wiedersehen würde. Das schlimmste war, daß ich sogar vergaß, ihr Geld dazulassen. Auch an dich dachte ich keinen Augenblick. Ich fuhr weg, um in Westeuropa zu bleiben, mein Lieber, und nie wieder nach Hause zurückzukehren. Ich emigrierte.«
    »Zu Herzen? Um an der Propaganda im Ausland teilzunehmen? Sie sind gewiß Ihr Leben lang an irgendeiner Verschwörung beteiligt gewesen?« rief ich unwillkürlich.
    »Nein, mein Freund, ich habe mich an keiner Verschwörung beteiligt. Aber deine Augen haben ja ordentlich zu funkeln angefangen; ich höre deine Ausrufe gern, mein Lieber. Nein, der Grund meiner damaligen Abreise war einfach eine Melancholie, die mich plötzlich überkommen hatte. Es war die Melancholie des russischen Adligen – wirklich, ich weiß mich nicht besser auszudrücken. Die adlige Melancholie – weiter nichts.«
    »Die Leibeigenschaft ... die Befreiung der Bauern?« murmelte ich, mühsam atmend.
    »Die Leibeigenschaft? Du glaubst, daß ich der Leibeigenschaft nachtrauerte? Daß ich die Befreiung der Bauern nicht ertragen konnte? O nein, mein Freund; wir selbst sind ja die Befreier gewesen. Ich wanderte ohne jeden Groll aus. Ich war soeben Friedensrichter gewesen und hatte in dieser Stellung mit Aufbietung meiner ganzen Kraft und mit völliger Uneigennützigkeit gewirkt; auch das war nicht der Grund meines Weggehens, daß ich für meine liberalen Bestrebungen wenig Dank geerntet hatte. Wir haben alle damals keinen Dank geerntet, wir, das heißt wieder Leute wie ich. Ich bin eher mit einem Gefühl des Stolzes als derReue weggegangen, und glaube mir, der Gedanke, es sei nun für mich das richtige, mein Leben als bescheidener Schuster zu beschließen, lag mir ganz fern. Je suis gentilhomme avant tout et je mourrai gentilhomme! Aber dennoch war mir traurig zumute. Solche Menschen wie mich gibt es in Rußland vielleicht etwa tausend, in der Tat mehr wohl nicht, aber das ist ja auch ganz ausreichend, damit die Idee nicht ausstirbt. Wir sind die Träger einer Idee, mein Lieber! ... Mein Freund, ich rede in der seltsamen Hoffnung, daß du all dieses Kauderwelsch verstehen wirst. Ich habe dich in einer Laune des Herzens gebeten herzukommen: ich hatte es mir schon lange ausgemalt, wie ich dir manches sagen wollte ... dir, gerade dir. Aber übrigens ... übrigens ...«
    »Nein, reden Sie!« rief ich. »Ich sehe auf Ihrem Gesicht wieder den Ausdruck der Aufrichtigkeit ... Nun? Hat Westeuropa Sie zu neuem Leben auferweckt? Und was hat es mit Ihrer ›adligen Melancholie‹ für eine Bewandtnis? Verzeihen Sie, Teuerster, ich verstehe noch nicht.«
    »Ob mich Westeuropa zu neuem Leben auferweckt hat? Aber ich bin ja selbst damals hingefahren, um es zu beerdigen!«
    »Um es zu beerdigen?« wiederholte ich erstaunt.
    Er lächelte.
    »Freund Arkadij, jetzt ist meine Seele von Rührung ergriffen, und ich habe mich geistig aufgelehnt. Ich werde niemals die ersten Augenblicke vergessen, die ich damals in Westeuropa verlebte. Ich hatte auch früher schon dort gelebt; aber damals war eine besondere Zeit, und ich war noch nie vorher mit einer so untröstlichen Traurigkeit und ... mit einer solchen Liebe hingefahren wie damals. Ich will dir einen der ersten Eindrücke erzählen, die ich dort empfing, einen Traum, den ich damals hatte, einen wirklichen Traum. Es war noch in Deutschland. Ich war eben aus Dresden abgereist und in der Zerstreutheit über die Station, wo ich hätte umsteigen müssen, hinausgefahren und so auf eine falsche Linie geraten. Man veranlaßte mich sehr bald zum Aussteigen; es war zwischen zwei und drei Uhr nachmittags und ein klarer Tag. Es war ein kleines deutsches Städtchen. Man wies mich nach einem Gasthaus.Ich mußte warten: der nächste Zug ging erst um elf Uhr nachts. Ich war mit diesem Abenteuer sogar ganz zufrieden, weil ich keine besondere Eile hatte, irgendwohin zu kommen. Ich trieb mich wie ein Nomade in der Welt umher, mein Freund, wie ein Nomade. Das Gasthaus erwies

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