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Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
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es in ganz Europa keinen einzigen Europäer! Nur ich allein konnte mitten unter allen Petroleusen ihnen ins Gesicht sagen, daß ihre Niederbrennung der Tuilerien ein Fehler war; und nur ich allein konnte mitten unter allen rachgierigen Konservativen diesen Rachgierigen sagen, daß die Niederbrennung der Tuilerien zwar ein Verbrechen war, aber doch eine logische Handlung. Und dies darum, mein Junge, weil ich, der Russe, damals in Europa der einzige Europäer war. Ich rede nicht von mir, ich rede von dem ganzen russischen Gedanken. Ich irrte umher, mein Freund, ich irrte umher und wußte auf das bestimmteste, daß ich schweigen und umherirren mußte. Aber dennoch war mir traurig zumute. Ich lege Wert auf meinen Adel, mein Junge, ich kann nicht anders. Ich glaube, du lachst?«
    »Nein, ich lache nicht«, sagte ich tief ergriffen, »ich lache ganz und gar nicht; Sie haben durch Ihre Vision des Goldenen Zeitalters mein Herz erschüttert, und seien Sie überzeugt, daß ich anfange, Sie zu verstehen. Aber am meisten freue ich mich darüber, daß Sie eine solche Achtung vor sich selbst haben. Ich beeile mich, Ihnen das auszusprechen. Ich hätte das nie von Ihnen erwartet!«
    »Ich habe dir schon gesagt, daß ich deine Ausrufe gern höre, mein Lieber«, erwiderte er, wieder über meinen naiven Ausruf lächelnd; dann stand er vom Stuhl auf und begann, ohne sich dessen bewußt zu sein, im Zimmer auf und ab zu gehen. Ich erhob mich ebenfalls. Er fuhr fort, in seiner seltsamen Redeweise, aber von seinen Gedanken in tiefster Seele bewegt, zu sprechen.

III
     
    »Ja, mein Junge, ich sage es noch einmal: ich lege Wert auf meinen Adel, ich kann nicht anders. Bei uns hat sich im Laufe der Jahrhunderte ein sonst noch nirgends dagewesener höchster Kulturtypus herausgebildet, den es in der ganzen übrigen Welt nicht gibt: der Typus des universalenKummers um alle. Das ist ein russischer Typus, aber da er in der höchsten Kulturschicht des russischen Volkes aufgekommen ist, so habe ich die Ehre, zu ihm zu gehören. Auf ihm beruht die Zukunft Rußlands. Wir sind unser vielleicht nur tausend Menschen, vielleicht etwas mehr, vielleicht etwas weniger – aber ganz Rußland hat bisher nur zu dem Zweck gelebt, diese tausend Menschen hervorzubringen. Man kann sagen, das sei herzlich wenig, und sich darüber entrüsten, daß zur Hervorbringung von tausend Menschen so viele Jahrhunderte und so viele Millionen Menschen aufgewendet sein sollen. Aber meiner Ansicht nach ist das nicht wenig.«
    Ich hörte ihm mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Ich sah nun klar, welches seine Überzeugungen waren, welche Richtung er in seinem ganzen Leben verfolgt hatte. Durch seine Bemerkung über die »tausend Menschen« trat sein eigenes Bild mit plastischer Deutlichkeit heraus! Ich hatte die Empfindung, daß seine Mitteilsamkeit mir gegenüber durch irgendeine äußere Erschütterung hervorgerufen war. Er hielt mir alle diese warmherzigen Reden gewiß in liebevoller Zuneigung; aber die Ursache, weshalb er auf einmal zu reden begonnen und weshalb er so sehr gewünscht hatte, gerade mit mir zu reden, diese Ursache war mir immer noch unbekannt geblieben.
    »Ich wanderte aus«, fuhr er fort, »und ich grämte mich um nichts, was hinter mir blieb. Ich hatte meinem russischen Vaterland, solange ich in ihm weilte, so gut gedient, wie es nur irgend in meinen Kräften stand; auch als ich weggegangen war, fuhr ich fort, ihm zu dienen, nur hatte ich die Idee erweitert. Aber indem ich ihm so diente, diente ich ihm weit besser, als wenn ich nichts weiter als Russe gewesen wäre, in ähnlicher Weise, wie der Franzose nichts weiter als Franzose und der Deutsche nichts weiter als Deutscher war. In Europa hat man dafür vorläufig noch kein Verständnis. Europa hat die edlen Typen des Franzosen, des Engländers, des Deutschen geschaffen, aber wie sein künftiger Mensch aussehen soll, davon weiß es noch fast nichts. Und wie es scheint, will es fürs erste auch noch gar nichts davon wissen. Und das ist ja auch begreiflich: sie sind nicht frei, wir aber sind frei. In ganz Westeuropa wardamals ich mit meiner russischen Melancholie der einzige freie Mensch ...
    Beachte eine Sonderbarkeit, mein Freund: jeder Franzose kann sowohl seinem Vaterland Frankreich als auch der Menschheit nur dann dienen, wenn er im höchsten Grade Franzose bleibt; ebenso steht es mit dem Engländer und dem Deutschen. Nur der Russe hat sogar schon in unserer Zeit, das heißt schon lange bevor das allgemeine

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