Der Jüngling
sich als ein elendes, kleines Ding, lag aber ganz im Grünen und war, wie das dort überall Sitte ist, von Blumenbeeten umgeben. Man gab mir ein enges Zimmerchen, und da ich die ganze Nacht unterwegs gewesen war, so schlief ich nach Tisch, um vier Uhr nachmittags, ein.
Ich hatte einen Traum, der mich völlig überraschte, weil ich dergleichen noch nie geträumt hatte. In Dresden hatte ich in der Gemäldegalerie ein Bild von Claude Lorrain gesehen, das im Katalog ›Acis und Galatea‹ hieß; ich aber hatte es immer ›Das Goldene Zeitalter‹ genannt, ich weiß selbst nicht warum. Ich hatte es auch früher schon gesehen, und nun, vor drei Tagen auf der Durchreise, hatte es wieder meine Aufmerksamkeit erregt. Dieses Bild also sah ich im Traum, aber nicht als Bild, sondern als Wirklichkeit. Ich weiß jedoch nicht, was ich eigentlich träumte; es war gerade wie auf dem Bild ein abgelegener Ort des griechischen Archipels, wobei ich auch um dreitausend Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt war; blaue, freundliche Wellen, Inseln und Felsen, ein blühendes Gestade, ein zauberhaftes Panorama in der Ferne, eine prachtvoll untergehende Sonne – es läßt sich mit Worten nicht schildern. Hier hat die Wiege der europäischen Menschheit gestanden, wie diese sich zu erinnern glaubt, und dieser Gedanke erfüllte auch meine Seele mit einer Art Heimatgefühl. Hier war das irdische Paradies der Menschheit: die Götter stiegen vom Himmel herab und schlossen Verwandtschaft mit den Menschen ... Oh, hier lebten schöne Menschen! Glücklich und unschuldig standen sie morgens auf und schliefen sie abends ein; die Wiesen und Haine waren voll von ihren Liedern und fröhlichen Rufen; der große Überschuß unversehrter Kräfte wurde auf Liebe und harmlose Freude verwendet Die Sonne überflutete sie mit Wärme und Licht und freute sich über ihre schönen Kinder ... Ein wundervoller Traum, ein edler Irrtum der Menschheit! Das Goldene Zeitalter ist die unwahrscheinlichste Träumerei vonallen, die es jemals gegeben hat, aber für diese Träumerei haben die Menschen ihr Leben und alle ihre Kräfte hingegeben; für sie haben sich die Propheten abgemüht, und für sie sind sie gestorben; ohne sie wollen die Völker nicht leben, und ohne sie können sie nicht einmal sterben! Und dieses ganze Gefühl durchlebte ich gleichsam, in diesem Traum; die Felsen und das Meer und die schrägen Strahlen der untergehenden Sonne – das alles glaubte ich noch zu sehen, als ich erwachte und die Augen öffnete, die mir tatsächlich von Tränen feucht waren. Ich erinnere mich, daß ich mich freute. Das Gefühl einer mir bisher unbekannten Glückseligkeit zog durch mein Herz, das davon sogar schmerzte; das war die Liebe zur ganzen Menschheit. Es war schon ganz Abend geworden; in das Fenster meines kleinen Zimmers drang durch die Blätter der auf dem Fensterbrett stehenden Blumen ein Bündel schräger Strahlen und übergoß mich mit Licht. Und siehe da, mein Freund, siehe da: diese untergehende Sonne des ersten Tages der europäischen Menschheit, die ich in meinem Traum gesehen hatte, verwandelte sich für mich sogleich nach meinem Erwachen in die untergehende Sonne des letzten Tages der europäischen Menschheit! Gerade damals ertönten über Europa sozusagen die Klänge der Totenglocke! Ich rede nicht nur vom Kriege und von den Tuilerien; ich hatte ohnehin gewußt, daß alles vergeht und das ganze Antlitz der alten westeuropäischen Welt sich früher oder später ändern würde: aber als russischer Europäer konnte ich mich nicht dareinfinden. Ja, sie hatten damals gerade die Tuilerien niedergebrannt ... Oh, sei unbesorgt, ich weiß, daß das eine ›logische‹ Handlung war, und habe volles Verständnis für die Unwiderstehlichkeit der im Fluß befindlichen Idee, aber als Träger des höchsten russischen Kulturgedankens konnte ich mich nicht dareinfinden, denn der höchste russische Gedanke ist die allgemeine Versöhnung der Ideen. Und wer in der ganzen Welt hätte damals einen solchen Gedanken verstehen können; ich irrte allein umher. Ich rede nicht von mir persönlich, ich rede von dem russischen Gedanken. Dort gab es Kampf und Logik; da war der Franzose weiter nichts als Franzose und der Deutsche weiter nichts als Deutscher, und zwar mit größerer Anspannungder Kräfte als jemals im Lauf ihrer Geschichte; mithin hat niemals der Franzose seinem Frankreich und niemals der Deutsche seinem Deutschland so viel Schaden zugefügt, wie gerade damals! Damals gab
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