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Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
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Fazit gezogen wird, die Fähigkeit erlangt, gerade dann im höchsten Grade Russe zu werden, wenn er im höchsten Grade Europäer wird. Das ist der wesentlichste nationale Unterschied zwischen uns und allen andern, und es steht in dieser Hinsicht bei uns anders als überall sonst. Ich bin in Frankreich ein Franzose, im Verkehr mit Deutschen ein Deutscher, wenn ich mich mit den alten Griechen abgebe, ein Grieche, und eben dadurch bin ich im höchsten Grade ein Russe, eben dadurch bin ich ein echter Russe und diene meinem Vaterland am besten, denn ich bringe seinen Hauptgedanken zur Geltung. Ich bin ein Pionier dieses Gedankens. Ich bin damals ausgewandert, aber habe ich etwa Rußland im Stich gelassen? Nein, ich habe fortgefahren, ihm zu dienen. Mag ich auch in Westeuropa nichts getan haben, mag ich auch nur, um umherzuirren, dorthin gegangen sein (und ich wußte, daß ich nur zu diesem Zweck hingekommen war): es genügte schon das eine, daß ich mit meinen Gedanken und mit meiner Erkenntnis hingekommen war. Ich trug meine russische Melancholie dorthin. Oh, was mich so erschreckte, war nicht nur das viele damals vergossene Blut, auch nicht einmal der Brand der Tuilerien, sondern alles, was noch folgen mußte. Ihnen ist beschieden, noch lange miteinander zu ringen, weil sie noch zu sehr Deutsche und zu sehr Franzosen sind und ihren Part in diesen Rollen noch nicht zu Ende geführt haben. Aber mir ist es leid um die Verwüstungen, die bis dahin noch stattfinden werden. Einem Russen ist Europa ebenso teuer wie Rußland; jeder Stein dort ist ihm lieb und teuer. Europa ist ebenso unser Vaterland gewesen wie Rußland. Oh, noch mehr! Niemand kann Rußland mehr lieben, als ich es tue, aber ich habe mir nie einen Vorwurf deswegen gemacht, daß mir Venedig, Rom, Paris, ihre wissenschaftlichen und künstlerischen Schätzeund ihre ganze Geschichte teurer sind als Rußland. Oh, den Russen sind sie teuer, diese alten, fremden Steine, diese Wunderwerke des Altertums, diese Trümmer heiliger Wunderwerke, und sie sind uns sogar teurer als den dort Lebenden selbst! Die haben jetzt andere Gedanken und andere Gefühle und haben aufgehört, die alten Steine zu schätzen ... Dort kämpft der Konservative nur den Kampf ums Dasein; und auch dem Petroleur geht es lediglich um das Recht auf sein tägliches Stück Brot. Nur Rußland lebt nicht für sich, sondern für die Ideen, und du mußt zugeben, mein Freund, es ist eine bemerkenswerte Tatsache, daß Rußland nun schon ein Jahrhundert lang entschieden nicht für sich, sondern nur für Europa lebt! Aber wie steht es mit denen dort? Oh, denen sind noch schreckliche Leiden beschieden, ehe sie das Reich Gottes erlangen werden.«
    Ich muß gestehen, ich hörte ihm in starker Verwirrung zu; sogar der Ton seiner Rede erschreckte mich, obgleich ich mich dem Eindruck seiner Gedanken nicht entziehen konnte. Ich fürchtete ängstlich, er könne eine Unwahrheit sagen. Auf einmal bemerkte ich in ernstem Ton:
    »Sie sagten soeben: ›das Reich Gottes‹. Ich habe gehört, Sie hätten dort von Gott gepredigt und Büßerketten getragen?«
    »Von meinen Büßerketten wollen wir nicht reden«, versetzte er lächelnd, »das steht auf einem ganz andern Blatt. Ich habe damals noch nichts gepredigt, aber um ihren Gott habe ich mich gegrämt, das ist wahr. Sie proklamierten damals den Atheismus ... zwar nur ein Häuflein von ihnen, aber das macht keinen Unterschied; es waren nur die vordersten Renner, aber es war der erste Schritt zur Ausführung ; darin lag seine Bedeutung. Darin zeigte sich wieder ihre Logik; aber mit der Logik ist immer eine gewisse Melancholie verbunden. Ich gehörte einer andern Kulturrichtung an, und mein Herz sträubte sich dagegen. Diese Undankbarkeit, mit der sie sich von der Idee trennten, dieses Auspfeifen und Bewerfen mit Schmutz war mir unerträglich. Die Schusterhaftigkeit dieses Vorgehens beängstigte mich. Übrigens hat die Wirklichkeit immer so eine Art von Stiefelgeruch, sogar beim eifrigsten Streben nach dem Ideal, und ich hätte das natürlich wissen sollen; aber ich wareben ein Mensch von einem andern Typus: ich war frei in meiner Wahl und sie nicht, und ich weinte, weinte für sie, weinte um die alte Idee und weinte vielleicht echte Tränen ohne alles Getue.«
    »Glaubten Sie denn so fest an Gott?« fragte ich mißtrauisch.
    »Mein Freund, das ist vielleicht eine müßige Frage. Gesetzt auch, daß ich nicht sehr fest an ihn glaubte, so konnte ich doch nicht umhin, mich um die

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