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Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
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aufzusuchen, sowie ich unsere Angelegenheiten in Ordnung gebracht hatte.
    Den weiteren Verlauf dieses ganzen Vormittags will ich nicht schildern, obgleich ich vieles davon erwähnen könnte. Wersilow war zur Beerdigung nicht in der Kirche, und aus der Miene der Meinigen war, schon ehe der Sarg vom Hause zur Kirche gebracht wurde, zu schließen gewesen, daß sie ihn in der Kirche nicht erwarteten. Mama betete andächtig und war augenscheinlich ganz in das Gebet versenkt. Am Sarg standen nur noch Tatjana Pawlowna und Lisa. Aber ich lasse mich auf keine, gar keine Schilderung ein. Nach der Beerdigung kehrten wir alle nach Hause zurück und setzten uns zu Tisch, und wieder merkte ich an den Gesichtern, daß er wahrscheinlich auch zum Essen nicht erwartet wurde. Als wir vom Tisch aufstanden, trat ich zu Mama, umarmte sie innig und wünschte ihr Glück zum Geburtstag; dasselbe tat nach mir auch Lisa.
    »Höre, Arkadij«, flüsterte mir Lisa heimlich zu, »sie erwarten ihn.«
    »Das merke ich, Lisa, das sehe ich.«
    »Er wird gewiß kommen.«
    ›Also müssen sie doch genaue Nachrichten haben‹, dachte ich, aber ich erkundigte mich nicht danach. Ich will zwar meine Gefühle nicht schildern, aber dieses ganze Rätsel legte sich trotz all meiner geistigen Frische doch plötzlichwie ein Stein auf mein Herz. Wir setzten uns alle im Wohnzimmer mit Mama um den runden Tisch. Oh, welch eine Freude machte es mir, mit ihr zusammenzusein und sie anzusehen! Mama bat mich, etwas aus dem Neuen Testament vorzulesen. Ich las ein Kapitel aus Lukas. Sie weinte nicht und war nicht einmal sehr traurig, aber noch nie war mir ihr Gesicht so geistig belebt erschienen. In ihrem stillen Blick leuchtete ein Gedanke; aber ich konnte in keiner Weise merken, daß sie unruhig auf etwas wartete. Das Gespräch verstummte keinen Augenblick: es wurden viele Erinnerungen an den Verstorbenen vorgebracht; auch Tatjana Pawlowna erzählte vieles von ihm, was mir vorher ganz unbekannt gewesen war. Und überhaupt, wenn ich es niederschreiben wollte, an interessantem Stoff wäre kein Mangel. Sogar Tatjana Pawlowna verhielt sich ganz anders als sonst: sie war sehr sanft, sehr freundlich und namentlich auch sehr ruhig, obgleich sie viel sprach, um Mama zu zerstreuen. Aber eine Einzelheit habe ich gut im Gedächtnis behalten: Mama saß auf dem Sofa, und links von dem Sofa lag auf einem besonderen runden Tischchen, anscheinend zu irgendeinem besonderen Zweck zurechtgelegt, eine alte Ikone ohne verzierte Einfassung, nur mit Heiligenscheinen um die Köpfe der Heiligen, deren zwei darauf dargestellt waren. Dieses Heiligenbild hatte Makar Iwanowitsch gehört, das wußte ich, und ich wußte auch, daß der Verstorbene sich nie von diesem Bild getrennt und es für wundertätig gehalten hatte. Tatjana Pawlowna blickte mehrmals danach hin.
    »Hör mal, Sofja«, sagte sie, indem sie den Gegenstand des Gesprächs plötzlich wechselte, »warum soll die Ikone so daliegen? Wollen wir sie nicht auf einen Tisch stellen und an die Wand lehnen und ein Lämpchen davor anzünden?«
    »Nein, wir wollen es lieber so lassen, wie es jetzt ist«, sagte Mama.
    »Nun ja, gewiß. Es sieht sonst gar zu feierlich aus ...«
    Ich verstand damals nicht, um was es ging, aber die Sache war die, daß Makar Iwanowitsch dieses Heiligenbild schon längst mündlich Andrej Petrowitsch vermacht hatte und Mama es ihm jetzt zu übergeben beabsichtigte.
    Es war schon fünf Uhr nachmittags: unser Gespräch dauerte immer noch fort; da auf einmal bemerkte ich auf Mamas Gesicht ein Zittern; sie richtete sich schnell auf und horchte, während Tatjana Pawlowna, die gerade sprach, weiterredete, ohne etwas zu bemerken. Ich wandte mich sogleich zur Tür hin und erblickte kurz darauf im Rahmen der Tür Andrej Petrowitsch. Er war nicht von der Haustür, sondern von dem Hintereingang her gekommen, durch die Küche und den Flur, und Mama war von uns allen die einzige gewesen, die seine Schritte gehört hatte. Jetzt will ich die ganze wahnsinnige Szene, die nun folgte, schildern, jedes Wort und jede Gebärde; diese Szene war nur kurz.
    Zunächst bemerkte ich in seinem Gesicht nicht die geringste Veränderung, wenigstens nicht auf den ersten Blick. Gekleidet war er wie immer, das heißt beinahe stutzerhaft. In der Hand hatte er einen kleinen, aber kostbaren Strauß frischer Blumen. Er trat zu Mama und überreichte ihn ihr lächelnd; diese sah ihn mit ängstlicher Verwunderung an, nahm aber den Strauß hin, und auf einmal

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