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Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
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Publikum hat erst kürzlich in den Zeitungen die Beschwerde eines Herrn gelesen, der eine ganze Nacht im Arrestlokal hat gefesselt zubringen müssen, und zwar ebenfalls im Ernüchterungszimmer, aber der war, glaube ich, sogar unschuldig, und ich war schuldig. Ich warf mich auf die Pritsche zu zwei in totenähnlichem Schlaf liegenden Menschen. Der Kopf tat mir weh, es pochte in meinen Schläfen, das Herz schlug mir heftig. Ich verlor wahrscheinlich das Bewußtsein und habe wohl irre geredet. Ich erinnere mich nur, daß ich tief in der Nacht aufwachte und mich auf der Pritsche aufrichtete. Auf einmal kam mir alles ins Gedächtnis zurück und wurde mir klar und verständlich; ich setzte die Ellbogen auf die Knie, stützte den Kopf in die Hände und versank in tiefes Sinnen.
    Oh, ich will meine Gefühle nicht schildern und habe auch keine Zeit dazu, ich bemerke nur das eine: vielleicht hat meine Seele niemals beseligendere Augenblicke durchlebt als jene Minuten des Sinnens in tiefer Nacht auf der Pritsche im Arrestlokal. Das mag dem Leser seltsam erscheinen, als eine Art Wichtigtuerei, als ein Bestreben, durch Originalität zu glänzen – und doch war alles so, wie ich sage. Es war einer jener Augenblicke, die vielleicht bei jedem Menschen vorkommen, ihm aber nur ganz selten im Leben beschieden sind. In solchen Augenblicken entscheidet man über sein Schicksal, bildet man sich eine feste Weltanschauung und sagt sich für das ganze Leben: ›Siehst du, da ist die Wahrheit, und diesen Weg mußt du gehen, um zu ihr zu gelangen.‹ Ja, jene Augenblicke waren ein Licht für meine Seele. Ich, der ich von dem hochmütigen Bjoring beleidigt worden war und erwarten mußte, am nächsten Tage von jener vornehmen Dame beleidigt zu werden, ich war mir sehr wohl bewußt, daß ich mich an ihnen furchtbar rächen konnte, aber ich beschloß, es nicht zu tun. Trotz der starken Versuchung beschloß ich, das Schriftstück nicht der Öffentlichkeit zu übergeben undes nicht der ganzen Welt bekanntzumachen (wie ich mir das auch schon hatte durch den Kopf gehen lassen); ich wiederholte mir nochmals meinen Vorsatz: gleich am nächsten Tag würde ich diesen Brief vor sie hinlegen und nötigenfalls statt eines Dankes sogar ein spöttisches Lächeln von ihr hinnehmen, aber dennoch kein Wort sagen und mich für immer von ihr trennen ... Indessen ist es zwecklos, diese meine Gedanken hier ausführlich zu beschreiben. Über alles das aber, was mit mir hier auf der Wache am nächsten Tag vorgehen würde, wie man mich dem Reviervorsteher vorführen würde und was sie mit mir anfangen würden – darüber nachzudenken kam mir überhaupt nicht in den Sinn. Ich bekreuzigte mich andächtig, streckte mich wieder auf die Pritsche und versank in einen festen Kinderschlaf.
    Ich erwachte erst spät, als es schon hell geworden war. Die andern Insassen des Zimmers waren nicht mehr da. Ich setzte mich hin und wartete schweigend lange Zeit, wohl eine Stunde; es mochte schon gegen neun sein, als ich plötzlich gerufen wurde. Ich könnte nun auf die Einzelheiten näher eingehen, aber es lohnt die Mühe nicht, da das alles jetzt nebensächlich ist; meine Aufgabe ist nur, die Hauptsache zu Ende zu erzählen. Ich will nur bemerken, daß man mich zu meinem größten Erstaunen mit ganz unerwarteter Höflichkeit behandelte: man fragte mich etwas, ich antwortete etwas und durfte gleich weggehen. Ich ging, ohne ein Wort zu sagen, hinaus und konnte in ihren Blicken mit einem Gefühl der Befriedigung sogar eine gewisse Verwunderung über einen Menschen lesen, der selbst in einer solchen Situation seine persönliche Würde zu wahren verstand. Wenn ich das nicht bemerkt hätte, würde ich es nicht schreiben. Am Ausgang erwartete mich Tatjana Pawlowna. Ich will mit wenigen Worten erklären, warum ich damals so glimpflich davonkam.
    Frühmorgens, vielleicht schon um acht Uhr, war Tatjana Pawlowna eilig nach meiner Wohnung, das heißt zu Pjotr Ippolitowitsch, gekommen, da sie den Fürsten immer noch dort zu finden erwartete, und hatte auf einmal von all den schrecklichen Ereignissen des vorhergehenden Tages erfahren, vor allem von meiner Verhaftung. Sofort war siezu Katerina Nikolajewna hingestürzt (die schon tags zuvor bei ihrer Heimkehr vom Theater ihren zu ihr transportierten Vater wiedergesehen hatte), hatte sie geweckt, sie durch ihre Mitteilungen in Schrecken versetzt und von ihr verlangt, sie solle unverzüglich meine Freilassung erwirken. Mit ein paar Zeilen von ihr hatte

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