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Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
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sogleich etwas zu suchen,aber als er im Vorbeigehen einen Blick in den Spiegel warf, blieb er stehen und betrachtete eine ganze Minute lang unverwandt sein Gesicht. Ich bemerkte dieses sonderbare Benehmen zwar (später erinnerte ich mich an alles nur zu gut), aber ich war in trüber Stimmung und in großer Verwirrung. Ich war nicht imstande, meine Gedanken zu sammeln. Einen Augenblick lang wurde in mir plötzlich der Wunsch rege, ohne weiteres davonzugehen und diese ganze Sache nie wieder anzurühren. Und was war diese ganze Sache denn, wenn ich's recht besah? War sie nicht eine Sorge, die ich ohne Not auf mich genommen hatte? Es brachte mich in Verzweiflung, daß ich aus purer Sentimentalität eine Menge von Energie vielleicht für wertlose Kleinigkeiten verschwendete, während ich doch selbst eine Aufgabe vor mir hatte, zu der die höchste Energie erforderlich war. Und dabei hatte sich meine Unfähigkeit zu ernsten Geschäften durch die Vorgänge bei Dergatschew deutlich herausgestellt.
    »Werden Sie denn noch einmal zu diesen Leuten hingehen, Krafft?« fragte ich ihn auf einmal. Er drehte sich langsam zu mir um, als hätte er mich nicht ordentlich verstanden. Ich setzte mich auf einen Stuhl.
    »Verzeihen Sie ihnen!« sagte Krafft plötzlich.
    Es schien mir natürlich zunächst, daß das Spott sei; aber als ich ihn aufmerksam anblickte, gewahrte ich in seinem Gesicht einen so merkwürdigen, geradezu staunenerregenden Ausdruck von Gutherzigkeit, daß ich selbst ganz erstaunt darüber war, wie er mich so ernsthaft hatte darum bitten können, ihnen zu »verzeihen«. Er rückte einen Stuhl heran und setzte sich neben mich.
    »Ich weiß selbst, daß ich vielleicht ein Mischmasch aller möglichen Selbstgefälligkeiten bin und weiter nichts«, begann ich, »aber um Verzeihung bitte ich nicht.«
    »Es ist auch gar keiner da, den Sie um Verzeihung zu bitten hätten«, erwiderte er leise und ernsthaft. Er sprach die ganze Zeit leise und sehr langsam.
    »Mag ich mich auch in meinen eigenen Augen schuldig gemacht haben ... Dieses Schuldbewußtsein ist mir angenehm ... Verzeihen Sie, Krafft, daß ich Ihnen gegenüber solches Zeug schwatze! Sagen Sie, gehören Sie wirklichebenfalls diesem Kreis an? Danach hatte ich Sie fragen wollen.«
    »Diese Leute sind nicht dümmer und nicht klüger als andere; sie sind eben geistesgestört wie alle.«
    »Sind denn alle geistesgestört?« fragte ich mit unwillkürlichem Interesse.
    »Die Besseren sind jetzt alle geistesgestört. Kräftigen Lebensgenuß leistet sich nur die Mittelmäßigkeit und die Unbegabtheit ... Übrigens, es lohnt nicht, von alledem zu reden.«
    Während er sprach, blickte er in die Luft, begann Sätze und brach sie wieder ab. Besonders fiel mir der mutlose Ton seiner Stimme auf.
    »Gehört denn auch Wassin zu ihnen? Wassin besitzt Verstand, Wassin hat eine sittliche Idee!« rief ich.
    »Sittliche Ideen gibt es jetzt überhaupt nicht; es hat sich jetzt auf einmal herausgestellt, daß keine da ist, und, was die Hauptsache ist, es sieht so aus, als ob auch nie eine dagewesen sei.«
    »Auch früher nie?«
    »Lassen wir dieses Thema lieber!« sagte er; er war sichtlich ermüdet.
    Seine ernste Traurigkeit rührte mich. Ich schämte mich meines Egoismus und begann auf seinen Ton einzugehen.
    »Die jetzige Zeit«, begann er selbst wieder nach zwei Minuten Schweigen, immer noch irgendwohin in die Luft blickend, »die jetzige Zeit ist die Zeit der goldenen Mittelmäßigkeit und Unempfindlichkeit, der Abneigung gegen die Bildung, der Trägheit, der Unfähigkeit zur Arbeit; man möchte alles ohne eigene Bemühung fix und fertig vorfinden. Niemand denkt ordentlich nach; selten bildet sich jemand eine Idee ...«
    Er brach wieder ab und schwieg ein Weilchen; ich wartete gespannt.
    »Man fällt jetzt in Rußland die Wälder, erschöpft den Boden, verwandelt ihn in eine Steppe und bereitet ihn für die Kalmücken vor. Wenn sich jemand findet, der auf die Zukunft hofft und einen Baum pflanzt, so verlachen ihn alle: »Wirst du noch so lange leben, bis er Früchte trägt?« Andererseits reden diejenigen, die das Gute wünschen, vondem, was nach tausend Jahren sein wird. Kräftigende Ideen sind ganz verschwunden. Alle befinden sich gleichsam in einer Herberge und schicken sich an, Rußland morgen zu verlassen; alle leben in dem Gedanken: ›Wenn es nur für uns noch reicht!‹ ...«
    »Erlauben Sie, Krafft, Sie sagten: ›Manche machen sich Sorgen um das, was nach tausend Jahren sein

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