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Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
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natürlich wissen, wie er sich dieses Schriftstücks zu bedienen hätte, und würde daraus soviel Vorteil ziehen wie nur möglich, aber Alexej Nikanorowitsch war entschieden der Ansicht, daß dieser Brief, wenn er präsentiert würde, keine große juristische Bedeutung haben würde, so daß Wersilow seinen Prozeß trotzdem gewinnen könne. Dieses Schriftstück stellt eher sozusagen eine Gewissenssache dar ...«
    »Aber das ist ja gerade das allerwichtigste«, unterbrach ich ihn, »ebendeswegen wird sich Wersilow in einer verzweifelten Lage befinden.«
    »Er kann aber doch das Schriftstück vernichten; damit befreit er sich von jeder Gefahr.«
    »Haben Sie besonderen Grund, eine solche Handlungsweise von ihm zu erwarten, Krafft? Eben das möchte ich gern wissen: gerade darum bin ich bei Ihnen!«
    »Ich glaube, daß jeder an seiner Stelle so verfahren würde.«
    »Und würden Sie selbst so verfahren?«
    »Ich mache keine Erbschaft, und darum weiß ich es von mir nicht.«
    »Nun gut«, sagte ich, indem ich den Brief in die Tasche schob. »Wir wollen diese Sache vorläufig abgetan sein lassen. Hören Sie, Krafft: Marja Iwanowna, die, wie ich Ihnen versichern kann, mir vieles enthüllt hat, hat mir gesagt, daß Sie, und nur Sie, mir die Wahrheit über das mitteilen könnten, was vor anderthalb Jahren in Ems zwischen Wersilow und den Achmakows vorgefallen ist. Ich habe auf Sie gewartet wie auf die Sonne, die mir alles aufhellen soll. Sie kennen meine Lage nicht, Krafft. Ich bitte Sie inständig, mir die ganze Wahrheit zu sagen. Ich will nämlich wissen, was er für ein Mensch ist, und jetzt, gerade jetzt ist es mir wichtiger denn je, dies zu wissen.«
    »Ich wundere mich, daß Marja Iwanowna Ihnen nicht alles selbst mitgeteilt hat; sie hatte die Möglichkeit, alles von dem verstorbenen Andronikow zu hören, und hat es selbstverständlich auch gehört und weiß vielleicht mehr als ich?«
    »Andronikow ist, wie mir Marja Iwanowna ausdrücklich gesagt hat, selbst über diese Sache sehr im unklaren gewesen. Es scheint, daß niemand diese Sache zu entwirren imstande ist. Da wird kein Teufel draus klug! Ich weiß aber, daß Sie damals selbst in Ems waren ...«
    »Ich habe nicht alles mit angesehen, aber was ich weiß, will ich Ihnen meinetwegen gern erzählen; es fragt sich nur, ob Sie mit meiner Darstellung zufrieden sein werden.«

II
     
    Ich will seine Erzählung nicht wörtlich hersetzen, sondern nur in Kürze den Hauptinhalt angeben.
    Vor anderthalb Jahren war Wersilow durch Vermittlung des alten Fürsten Sokolskij ein Freund der Familie Achmakow geworden (sie befanden sich damals alle im Ausland, in Ems) und hatte auf diese einen starken Eindruck gemacht, und zwar in erster Linie auf den General Achmakow selbst, der noch kein alter Mann war, aber die ganze reiche Mitgift seiner Frau Katerina Nikolajewna während der drei Jahre ihrer Ehe am Kartentisch verspielt und infolge seines ausschweifenden Lebenswandels schon einen Schlaganfall gehabt hatte. Von diesem erholte er sich im Ausland; in Ems aber hielt er sich wegen seiner Tochter aus erster Ehe auf. Dies war ein kränkliches Mädchen von siebzehn Jahren, brustleidend, sehr schön, wie man sagt, dabei aber auch sehr exzentrisch. Eine Mitgift hatte sie nicht; man hoffte in dieser Hinsicht, wie gewöhnlich, auf den alten Fürsten. Katerina Nikolajewna war, wie man sagt, eine gute Stiefmutter. Aber das junge Mädchen faßte aus irgendeinem Grund eine besondere Neigung zu Wersilow. Dieser predigte damals »etwas Fanatisches«, nach Kraffts Ausdruck, ein neues Leben, er hatte »fromme Anwandlungenerster Güte«, nach Andronikows sonderbarem, vielleicht spöttischem Ausdruck, der mir mitgeteilt wurde. Aber merkwürdig war, daß alle bald aufhörten, ihn gern zu haben. Der General fürchtete sich sogar vor ihm. Krafft bestritt durchaus nicht die Wahrheit des Gerüchts, daß Wersilow es fertiggebracht habe, dem kranken Mann den Gedanken in den Kopf zu setzen, daß Katerina Nikolajewna dem jungen Fürsten Sokolskij gegenüber nicht gleichgültig sei (dieser war damals von Ems weggereist und hatte sich nach Paris begeben). Er habe das nicht geradezu getan, sondern »nach seiner Gewohnheit« durch Andeutungen, Anspielungen und gewundene Redensarten, »denn darauf versteht er sich meisterhaft«, sagte Krafft. Überhaupt muß ich sagen, daß Krafft ihn eher für einen Betrüger und geborenen Intriganten hielt und halten wollte als für einen Menschen, der wirklich von etwas Höherem

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